Sinnliches Coming-Out in Landidylle

01.02.2007
Es ist merkwürdig still geworden um André Gide. Der Literaturnobelpreisträger von 1947 galt noch Klaus Mann, der damals eine große Monographie über ihn schrieb, als Verkörperer des modernen Denkens schlechthin.
Gide war über Jahrzehnte einer der wichtigsten Lehrmeister der französischen Intelligenz. Sartre, Camus, Roland Barthes: bis zu ihnen reichte sein Einfluss als Stilist, als Literaturpapst, als unermüdlicher Selbsterforscher und Selbstüberprüfer, als engagierter Intellektueller schließlich, der gegen jede Form von Fremdbestimmung mutig und konsequent zu Felde zog. 1869 geboren und 1951 gestorben, ist Gide oft als das französische Pendant zu Thomas Mann aufgefasst worden, der übrigens seinerseits Respekt und Sympathie gegenüber seinem französischen Kollegen mehrfach bezeugt hat.

Doch, wie gesagt, um Gide ist es in den letzten Jahrzehnten still geworden, zu bürgerlich bei aller Bürgertumskritik, zu sehr Ästhet bei allem politischem Kämpfertum, zu sehr überzeugt von der Macht der Persönlichkeit bei gleichzeitigem Aufzeigen ihrer Determinanten mag er den maßgeblichen Intellektuellen der Nachkriegszeit erschienen sein, die den "Tod des Subjekts" auf ihre Fahnen schrieben und auf Erkundungen des eigenen Ich, wie Gide sie so unablässig wie unbestechlich betrieb, verzichten zu können meinten.

Umso erstaunlicher, dass dann doch, vor einigen Jahren in Frankreich, jetzt auch bei uns, ein bislang unveröffentlichter Text aus Gides Nachlass endlich das Licht der Öffentlichkeit erblickt. Es handelt sich um die kleine, 1907 geschriebene Erzählung "Die Ringeltaube", in der Gide von einem Liebesabenteuer berichtet, das er im Sommer desselben Jahres seinem Freund Eugène Rouart verdankte, der ihm anlässlich eines Besuchs auf seinem Landsitz im französischen Südwesten den 17-jährigen Sohn seines Großknechts zuführte, mit dem Gide eine heiße Nacht verbringt.

Es ist vielleicht kein Zufall, dass "Neues von Gide" jenes Thema berührt, dessentwegen er heute am meisten geschätzt und beachtet wird: sein couragiertes Eintreten für die Homosexualität, zu der er selber spät und unter erheblichen Gewissensbissen gefunden hatte. Der Weg zum Coming-Out war lang für Gide, aber er steigerte sich von Etappe zu Etappe und mündete mit der Autobiographie von 1926 ("Stirb und Werde") schließlich in einem Werk, das in der europäischen Literatur jener Zeit einzigartig dasteht, was Offenherzigkeit und Selbstbewusstsein angeht.

Der Slogan "proud to be gay" war noch nicht erfunden, aber er hätte von Gide stammen können. Die Denkverbote und sexuellen Tabus seiner Epoche durchbrochen, sich zur eigenen Homosexualität öffentlich bekannt und seinem Eros gemäß lebend sich entschlossen zu haben, erfüllte Gide bis ans Ende seiner Tage mit einem für prüde Zeitgenossen geradezu provozierend vorgetragenen Stolz.

Auf diesem langen Weg zum Coming-Out markiert "Die Ringeltaube" eine wichtige Station. Ohne alle Verschleierung, ohne allen Aufputz durch ein ausgestelltes Kulturprogramm, wie es Thomas Mann in seinem "Tod in Venedig" noch brauchen sollte, um frei von der gleichgeschlechtlichen Liebe sprechen zu können, beschreibt hier Gide eine mann-männliche Begegnung, die ganz aufs Körperliche sich beschränkt, ohne doch im mindesten pornographisch zu sein. Sehr poetisch, sehr zärtlich und mit viel Raum für die inneren Glücksmomente, die ihm der Sex mit dem jungen Landarbeiter beschert, schreibt Gide hier über einen klassischen One-Night-Stand.

Der Text liest sich so frisch und beschwingt, dass man das Gefühl hat, einem mündlichen Bekenntnis beizuwohnen. Unbefangen, vorurteilslos, auf fast unschuldige Weise sinnlich kommt einem der fast Vierzigjährige in diesem kleinen Text entgegen.

Erst bei näherem Hinsehen kommt man dem auch hier wieder raffiniert operierenden Autor auf die Schliche: Sein Text spielt zwar in der Gegenwart des Jahres 1907, aber mit wenigen Strichen wird doch eine Kulisse ländlicher Idylle entworfen, die auf sein großes Vorbild Vergil verweist. Die "Ringeltaube" hätte genauso gut auch unter griechischen oder römischen Hirten in den bukolischen Gedichten Vergils gurren können. Hier gurrt sie aber gut französisch. Und das liest sich sehr charmant!

Rezensiert von Tilman Krause

André Gide: Die Ringeltaube
Erzählung. Übersetzt aus dem Französischen von Andrea Spingler.
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2006.
75 Seiten, 9,90 EUR.