Sind wir jetzt wirklich anders?

Von Reinhard Mohr |
Ehrlich gesagt: Im Augenblick fühle ich mich ziemlich ausgebrannt. Die Reserven sind aufgebraucht, und die Motivation ist nahe Null. Innerlich ist da eine gewisse Leere. Die ganze Anspannung der letzten Wochen ist abgefallen, und eigentlich bräuchte auch ich ein halbes Jahr Urlaub. Mal ganz raus und weg.
So wie Jürgen Klinsmann, der für gut vier Wochen, während der wunderbaren Fußballweltmeisterschaft in Deutschland, der eigentliche Bundeskanzler war. Jedenfalls mental gesehen. Vom Spirit her. Nun ist er wieder zu Hause. In Kalifornien bei Frau und Kind.

Das Problem: Ich muss leider hier bleiben und versuchen, Ihnen in fünf Minuten zu erklären, was das eigentlich war, diese Mischung aus Fußball, Dauerparty, Endlossommer und jenem viel beschworenen "neuen" Patriotismus, der das ganze Land in schwarzrotgold getaucht hatte.

Hier und da meldeten sich Bedenkenträger im Feuilleton zu Wort, ob das alles denn auch mit rechten Dingen zugehe und man nicht vielleicht wenigstens eine neue Nationalhymne dichten könne. Von wegen der Vergangenheit und so. Man hätte da schon tolle fortschrittliche Ideen...

Alles in allem aber war man sich einig: Hier offenbarte sich plötzlich ein ganz neues Deutschland, das nicht nur effektiv organisieren, sondern auch noch perfekt feiern kann.
Selbst nach der schmerzlichen Niederlage gegen Italien im Halbfinale gab es keine nationalistischen Krawalle, keine Szenen vom "hässlichen Deutschen", der eisern Rache schwört und im Geiste schon wieder die Panzerketten ölt.

So ging schließlich eine überraschend frohe Botschaft um die Welt: Die Deutschen – die sind gar nicht so. Die können auch anders. Sie müssen nicht verklemmt und verbiestert sein, manisch erfolgs- und leistungssüchtig, entweder ganz oben als Herrscher, gar Vernichter der Welt, oder ganz unten, als winselnde Köter; eins so unsympathisch wie das andere. Miese Kicker obendrein.

Nein, sie sind offensichtlich sind viel lockerer und unverkrampfter, als man dachte, nicht mehr dumpfdeutsch altgermanisch, sondern eher neo-mediterran. Beinah jedenfalls. Die internationale Presse staunte, und das Ausland rieb sich die Augen. Immer wieder, erzählte André Heller, habe er einen Satz gehört: "Wir stehen regelrecht unter Schock: Die Deutschen sind uns plötzlich sympathisch!"

Doch jetzt stehen wir ein bisschen unter Schock. Denn, erstens, müssen wir das alle schlüssig erklären. Das sind wir uns und der Welt schuldig. Und zweitens die Frage beantworten: Bleibt das jetzt so? Oder geht das wieder weg?
War alles doch nur Lug und Trug, Schein und Wahn? Partyotismus statt Patriotismus, ein bisschen Wellness- und Feelgood-Spektakel statt nachhaltiger Selbst- und Weltveränderung?

Sachdienliche Hinweise gibt es durchaus. In traumwandlerischer Sicherheit fand zum Beispiel die erste "Sabine Christiansen"-Talkshow nach der Zwangspause den guten alten deutschen Ton von vorher wieder. Ein Menetekel:

"Nach der WM – Abpfiff für den Aufbruch?"

Es hätte natürlich auch heißen können: "Aufbruch nach dem Abpfiff?" oder "Umbruch nach dem Anpfiff?" Oder "Anschiss nach dem Abbruch?"

Aber der Sommer ist ja noch lang.

Um es kurz zu machen: Selbstverständlich haben wir einen Ausnahmezustand erlebt, der nicht einfach in die Normalität des Alltags zu übertragen ist. Und natürlich ist eine Fußballweltmeisterschaft nicht mit den Mühen der Gesundheitsreform zu vergleichen, eine Fußballmannschaft nicht mit den komplexen Strukturen einer großen Koalition.
Ein Land ist kein Team, und eine Gesellschaft aus 82 Millionen Individuen ist keine Fanmeile.
Aber es wird etwas Wichtiges bleiben: Eine Erfahrung. Eine Erfahrung der Deutschen mit sich selbst. Mag auch das Wort von einer "Selbstfindung" übertrieben sein, so stimmt doch, dass Stereotypen in der deutschen Selbstwahrnehmung geschleift wurden, darunter vor allem das tief sitzende Selbstmisstrauen. Motto: Der Faschismus lauert überall, und wer eine deutsche Fahne schwenkt, ist mindestens ein halber Nazi.

Nein, jetzt wissen wir: Der Schoß ist nicht mehr fruchtbar, aus dem dies kroch!
Dafür haben wir nicht zuletzt durch ein halbes Jahrhundert intensiver und schmerzhafter Debatten der Selbstreflexion gesorgt.
Heute ist die deutsche Republik weder geschichtsvergessen noch geschichtsversessen.

Sie ist eine demokratische, weltoffene und, ja, multikulturelle Gesellschaft.
Das war sie zwar auch schon vor der WM, aber manchmal braucht es eben ein bestimmtes Ereignis, um einen Zustand ins allgemeine Bewusstsein zu heben.

Und noch etwas. Das Glück. Glücksgefühle sind vergänglich, gewiss. Aber genau so, wie eine glückliche Kindheit im Leben eines Menschen ein schier unversiegbarer Quell von Selbstbewusstsein und Identität sein kann, so könnten auch die glücklichen WM-Wochen im strahlenden Frühsommer 2006 den Deutschen ein wenig Kraft und Orientierung geben – auch und gerade dann, wenn im nächsten trüben November wieder über die achte Reformfolgenbeseitungsnovelle diskutiert wird, die Arbeitslosenzahlen wieder steigen und Sabine Christiansen ins deutsche Dunkel fragt:

"Advent, Advent, ein Fünzlein brennt – Abpfiff für Angela?"

Reinhard Mohr, geboren 1955, schreibt für Spiegel Online. Zuvor war Mohr langjähriger Kulturredakteur des "Spiegels". Weiter journalistische Stationen waren der "Stern", "Pflasterstrand", die "tageszeitung" und die "Frankfurter Allgemeine Zeitung". Letzte Buchveröffentlichungen: "Das Deutschlandgefühl" und "Generation Z". Mohr lebt in Berlin-Mitte.