Simone Peter

"Neue Grenzzäune sind die falscheste Lösung"

Simone Peter, Bundesvorsitzende der Grünen
Simone Peter, Bundesvorsitzende der Grünen: "Wir brauchen Möglichkeiten, um die Menschen aufzunehmen." © AFP PHOTO / JOHN MACDOUGALL
Simone Peter im Gespräch mit Ute Welty · 04.10.2014
Flüchtlinge brauchen sichere Zugangswege nach Europa: Zum Jahrestag des Bootsunglücks von Lampedusa fordert die Grünen-Chefin Simone Peter eine Änderung des europäischen Asylverfahrens und die Sofort-Aufnahme von 500.000 Flüchtlingen aus dem Irak.
Ute Welty: Das Mittelmeer ist für viele ein Sehnsuchtsort. Urlaub am Mittelmeer verspricht Sonne, Strand, Wasser – Erholung pur. Etliche nutzen jetzt die Ferien, um dem deutschen Herbst nach einem zumindest durchwachsenen Sommer zu entfliehen. Andere riskieren ihr Leben am und auf dem Mittelmeer. Spätestens seit dem 3. Oktober 2013 steht Lampedusa für eines der schlimmsten Bootsunglücke dort. Mehr als 360 Menschen sind damals ertrunken, als ihr überfülltes Flüchtlingsboot Feuer fing und kenterte. Politiker aus ganz Europa und allen Parteien beeilten sich, zu beteuern: So etwas darf sich nicht wiederholen. Aber es hat sich wiederholt. Tatsache ist, dass auch nach dem 3. Oktober 2013 Menschen während der Flucht aus ihrer Heimat in Richtung Europa gestorben sind, und zwar mehr, als in den Jahren zuvor. Anlässlich des Jahrestages der Bootskatastrophe hat auch Simone Peter Lampedusa besucht. Drei Tage verbringt die Parteivorsitzende der Grünen auf der Mittelmeerinsel. Guten Morgen, Frau Peter!
Simone Peter: Guten Morgen, ich grüße Sie!
Welty: Sie werden heute Lampedusa verlassen. Mit welchem Gefühl, mit welchen Eindrücken reisen Sie ab?
Peter: Es war ein bestürzender Eindruck, ein bestürzendes Erlebnis, gestern zusammen mit trauernden Überlebenden der Lampedusa-Katastrophe auf das Meer hinausgefahren zu sein und dort Blumen an die Stelle ins Wasser zu werfen, an denen diese mehrere Hundert Menschen ertrunken sind. Wenn man dort vor Ort vorbei ist, begreift man nicht, wieso nicht endlich das gesamte System vom Kopf auf die Füße gestellt wird, wir eine bessere Rettung bekommen und ein Asylsystem, was den Menschen besseren Zugang ermöglicht. Das war wirklich ein sehr bewegender Moment.
Welty: Haben diese Eindrücke noch mal Ihre politische Haltung verändert? Die Grünen stehen ja schon immer für eine sehr großzügige Flüchtlingspolitik, von wenigen Ausnahmen wie dem baden-württembergischen Ministerpräsidenten einmal abgesehen, der ja im Bundesrat für die Verschärfung des Asylrechts gestimmt hat.
Noch viel mehr Menschen als bisher werden auf dem Mittelmeer den Tod finden
Peter: Na ja, zunächst mal sind dem ja auch Verhandlungen vorausgegangen. Wir haben ja das, was jetzt verbessert wurde, durchaus auch auf grünen Druck hin verbessert. Aber mir wurde hier noch mal deutlich, wir brauchen ein Sofortprogramm. Wir haben hier auch Besuche auf Sizilien in Aufnahmelagern für minderjährige Flüchtlinge hinter uns gebracht, was wirklich schockierend war. Wir haben hier erlebt in Gesprächen mit der Küstenwache, mit Frontex, dass wir dringend Verbesserungen bei der Seenotrettung brauchen, und zwar sofort. Wenn hier dieses Programm "Mare Nostrum" ausläuft, was im letzten Jahr 140.000 Menschen aufgenommen hat, dann wird klar, dass wir mit massivem Sterben auf dem Meer konfrontiert sind, noch mit viel mehr Menschen, die auf dem Meer den Tod finden werden, als bisher. Das heißt, wir brauchen dringend Möglichkeiten der Rettung, aber auch der sicheren Zugangswege in Europa, und dann eben, zu Ende gedacht, auch eine Unterstützung der Kommunen vor Ort, um den Flüchtlingen einfach eine bessere Unterbringung und eine Fürsorge zu gewährleisten.
Welty: Die Diskussion dreht sich ja seit Jahren um dieselben Punkte: Italien fühlt sich allein gelassen, die Lasten sind ungerecht verteilt, Europa spricht keine gemeinsame Sprache. An welchem Hebel können, wollen Sie ansetzen, damit endlich mal Bewegung in die Sache kommt?
Peter: Also, wie eben schon gesagt, kurzfristig muss es ein Seerettungsprogramm geben, in dem Stile, wie das "Mare Nostrum" war, und wir brauchen eine Veränderung am Asylsystem. Dublin, das Dublin-Verfahren führt nur dazu, dass die Menschen nicht dort, in den Ländern, in denen sie gerne Unterschlupf finden –
Welty: Das sollten wir vielleicht noch mal kurz erklären. Das Dublin-Verfahren bedeutet, dass die Menschen da aufgenommen werden müssen, wo sie ankommen in Europa.
Europäisches Dublin-II-Verfahren ändern. Flüchtlinge europaweit verteilen
Peter: Genau. Also die Menschen, die zum Beispiel über das Mittelmeer in Italien anlanden, sollen theoretisch – nicht alle machen das – hier ein Asylverfahren stellen. Manche kommen auch durch in andere Länder, ohne ihre Fingerabdrücke, ohne ihre Identität hier zu lassen. Die können dann auch woanders Asyl beantragen. Allerdings ist es eben so, dass die Länder, die eben an den Außengrenzen sind, nur diese Asylverfahren durchführen können, wenn die Menschen auf dem Landweg oder auf dem Schiffsweg kommen. Da braucht man dringend eine Veränderung, das heißt auch, eine andere Verteilung, auch eine Unterstützung der Länder an den Außengrenzen, und vor allen Dingen auch eine Standardisierung. Wir haben unterschiedliche Standards bei den Asylverfahren. Man merkt hier schon noch mal in Italien, das ist ein Unterschied zu Deutschland, wenn man sich die Unterkünfte anguckt, aber hier brauchen wir eigentlich dringend eine europaweit abgestimmte Initiative, um die Zugangsmöglichkeiten und die Bleibemöglichkeiten zu verbessern.
Welty: Auf Europa zu schimpfen, ist das eine, aber was kann, was muss Deutschland tun, und was ist womöglich gar nicht leistbar. Manche Stadt, manche Gemeinde ist ja jetzt schon überfordert, was die Unterbringung und die Versorgung von Flüchtlingen angeht.
Peter: Wir fordern ja schon länger einen nationalen Flüchtlingsgipfel, um endlich mal Bundesebene, Länder, Kommunen, Wohlfahrtsverbände, Nichtregierungsorganisationen, alle, die mit den Flüchtlingen zu tun haben, zusammenzubringen, den Bedarf zu ermitteln.
Welty: Und wenn 60 Leute an einem Tisch sitzen – bringt das wirklich was für die Menschen, die Hilfe brauchen?
Nationaler Flüchtlingsgipfel soll den Druck auf die Bundesregierung erhöhen
Peter: Ja, ich glaube, das bringt was, auch, um den Druck auf die Bundesregierung zu erhöhen, dass wir mehr Mittel brauchen. Wir brauchen dringend Wohnungsbauprogramme, das wird auch gerade hier in Italien diskutiert. Die Erstaufnahmestellen in Deutschland quellen über. Wir brauchen Möglichkeiten, um die Menschen aufzunehmen. Wir sind damit konfrontiert, dass wir Krisen haben weltweit. Die Menschen kommen ja auch nicht alle. Viele wollen ja in ihren Regionen bleiben. Da muss man auch gucken, was kann man in der Region selber organisieren. Aber derzeit ist eine Welle da. Wir wissen nicht, wie lange sie dauert. Wir brauchen Unterstützung für die Kommunen, für die Menschen, und deswegen muss man wirklich schnell alle Akteure an einen Tisch bringen und das organisieren, und sich vor allen Dingen europaweit auch dafür einsetzen, dass wir da zu einem gemeinsamen neuen System kommen, statt neue Grenzzäune hochzuziehen. Das ist, glaube ich, die falscheste Lösung.
Welty: So bitter das klingt: Hilft es womöglich, die Debatte voranzutreiben, weil die Zahl der Flüchtlinge so stark gestiegen ist? 2013 haben zum Beispiel 60.000 Menschen die Überfahrt nach Lampedusa gewagt, In diesem Jahr waren es bis September schon 165.000.
Peter: Ja, die Zahlen nehmen zu. Und ich glaube, sie nehmen auch zu, selbst, wenn solche Programme nicht mehr existieren. Es gibt ja so etwas die zynische Debatte vor allen Dingen konservativer Politiker, die sagen, man darf durch Seerettungsprogramme nicht den Anreiz schaffen, dass mehr Menschen kommen. Wir haben seit Jahren einen Anstieg. Das ist derzeit dramatisch, aber die Aufnahmelager in den afrikanischen Ländern quellen ja über. Das heißt, wir unterstützen eher Schlepperbanden und dramatische Bootsüberfahrten mit schlechten Booten, wenn wir nichts tun, als wenn wir endlich organisieren, dass wir mehr Möglichkeiten schaffen, Menschen aufzunehmen, die aus Krisengebieten kommen. Das heißt auch zum Beispiel ein Aufnahmeprogramm in einer Größenordnung von 500.000 in Europa für irakische Flüchtlinge zu schaffen, mehr Syrer aufzunehmen, generell einfach jetzt mal Hilfe zu leisten. Wir hatten auch zur Zeit der Bosnienkriege über 400.000 Menschen in Deutschland. Auch das war zu bewältigen. Wir brauchen ein aktives Vorangehen der Bundesregierung. Ressentiments zu schaffen und Flüchtlingsgruppen gegeneinander auszuspielen, das hilft hier am allerwenigsten, sondern es muss drum gehen, jetzt Hilfe zu leisten, wo wir so große Krisen haben.
Welty: Simone Peter im "Studio 9"-Interview. Die Parteivorsitzende der Grünen hält sich auf Lampedusa auf, erster europäischer Sehnsuchtsort für viele afrikanische Flüchtlinge. Ich danke und wünsche eine gute und sichere Heimreise!
Peter: Vielen Dank, danke Ihnen auch!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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