Silvester in Deutschland

Rausch nach Regeln

Zwei Gläser mit Champagner
Ohne Rausch keine Nüchternheit und umgekehrt. © picture alliance / dpa / Pekka Sakki
Robert Feustel im Gespräch mit Liane von Billerbeck · 31.12.2015
An Tagen wie Silvester werden die Regeln des Alltags außer Kraft gesetzt, auch das Gebot der Nüchternheit. Der Rausch ist Flucht und gemeinschaftsstiftend zugleich, meint der Politikwissenschaftler Robert Feustel. Ein Ausnahmezustand, der Ritualen folgt.
Viele Menschen beginnen das neue Jahr mit einem gehörigen Kater, weil sie es an Silvester mal wieder so richtig haben krachen lassen. Für die solchermaßen Geplagten hat der Politikwissenschaftler Robert Feustel Trost parat: Der Rausch gehöre einfach zum Leben, sagt er. Er sei sowohl Ventil für Frustration als auch Gemeinschaft stiftendes Erlebnis. Ein vernünftiges und dauerhaft nüchternes Leben sei kaum vorstellbar. "Dann braucht es normalerweise Situationen, Gefühle, Momente, die andere Ebenen tangieren, andere Gefühlswelten erleben lassen. Und Rausch ist dann eine Version davon."

Das Interview im Wortlaut:
Liane von Billerbeck: Mancher legt es an Tagen wie Silvester ja nur darauf an, im Vollrausch zu landen, was ja, direkter formuliert, nichts weiter als Suff bedeutet. Wie aber ist es mit diesem Ausnahmezustand namens Rausch? Woher kommt eigentlich dieses Wort, und wie hat man sich früher berauscht, und braucht man dafür eigentlich irgendwelche Substanzen? Das wollen wir wissen von einem, der es wissen muss. Er ist Politikwissenschaftler interessanterweise an der Universität Leipzig und zudem Autor eines umfassenden Buches über Kulturen des Rauschs seit der Renaissance. Schönen guten Morgen, Herr Feustel, Robert Feustel!
Robert Feustel: Schönen guten Morgen!
Rausch und Nüchternheit gehören zusammen
von Billerbeck: Zu Silvester ist ja gemeinsames Alkoholtrinken Tradition zu Feierlichkeiten allgemein. Da gilt es als normal, die Regeln des Alltags einfach mal durch Rausch außer Kraft zu setzen. Wie ist das, brauchen wir das, diese Flucht in den Rausch?
Feustel: Das erklärt sich vielleicht ein Stück weit, wenn man die Frage umkehrt und danach fragt, ob ein vernünftiges und dauerhaft nüchternes Leben so denkbar wäre.
von Billerbeck: Unerträglich ...
Feustel: Das können wir uns kaum vorstellen, und dann braucht es relativ normalerweise Situationen, Gefühle, Momente, die andere Ebenen tangieren, andere Gefühlswelten erleben lassen. Rausch ist dann eine Version davon.
von Billerbeck: Ich wollte gerade sagen, zwischen Vernunft und Rausch liegt ja noch eine große – da ist ja viel Platz.
Feustel: Ja, da ist viel Platz. Das ist ein bisschen eine künstliche Opposition von zwei Begriffen, die ist auch recht jung. Man kann Rauschzustände gar nicht denken ohne ein relativ strenges, stabiles Bild von Nüchternheit, was eigentlich ein modernes Phänomen ist.
Ohne das Bedürfnis nach Kontrolle gibt es keinen Kontrollverlust
von Billerbeck: Das heißt, seit wann ist das mit der Nüchternheit so in, wenn Sie sagen, das ist ein modernes Phänomen?
Feustel: Da kann man schon sich die Geschichte der Aufklärung anschauen, dann vor allem noch mal das 19. Jahrhundert, Vernunftdenken, die Geschichte des Vernunftdenkens, auch das Denken des Individuums als selbstverständliche, selbstgewisse Entität, die sich selbst bewusst ist, die weiß, was sie tut, die sich selbst unter Kontrolle hat. Das ist alles relativ neu.
Der Rauschbegriff passt auch ganz gut in diese Zeit. Es gibt sozusagen Situationen, die man heute als Rausch beschreiben würde, schon länger, gerade in Gemeinschaftskonstruktionen, also Feste wie Karneval sind ganz bekannte, alte Rauschsequenzen oder sind alte Festivitäten, die wir heute als Rausch beschreiben würden. Das ist zu der Zeit, im Mittelalter oder in der frühen Neuzeit gar nicht so üblich. Und dann erst mit dem Denken der Moderne beginnt auch ein Rauschdenken sich auszuprägen.
Ausbrechen aus dem Alltag
von Billerbeck: Warum sind denn aber nun diese Ausnahmesituationen so wichtig? Ist das ein bloßes Ventil gegen Überdruck, oder brauchen wir das, weil wir uns quasi als Gemeinschaft zusammenfinden wollen?
Feustel: Das wird beides sein. Es sind ja viele Varianten vorstellbar. Silvester wird ja auf ganz unterschiedliche Weise gefeiert. Für viele ist es sicherlich eine Art Ventil, mal richtig loszulassen, mal richtig durchdrehen zu können. Das ist vielleicht auch so eine unangenehme Spur an Silvester: Alle wissen, sie haben den nächsten Tag frei, oder die allermeisten haben den nächsten Tag frei, manche Radiomoderatoren vielleicht nicht, und dann können sie es alle mal richtig krachen lassen. Das kann ein sehr privates Ventil sein, um Frustrationen abzubauen. Es kann aber auch eine gemeinschaftsstiftende Konstellation sein von Gruppen, die zusammen feiern, die sich finden.
Aber diese gemeinschaftsstiftenden Elemente gibt es ja häufiger. Das geht schon bei Kindergeburtstagen los. Das muss man nicht unbedingt auf Rauschsequenzen verengen, es wird aber heute gerne in einen Topf geworfen, also gern verknüpft miteinander, dass diese Momente, wo man aus dem Alltag ausbricht, dann nur noch Rauschsequenzen sein können. Es ist sicherlich beides. Und ob man das braucht – auch da würde ich sagen, ja, dieses Ventil mag es unbedingt geben müssen, und auch eine Gemeinschaftsfunktion. Ob das immer Rausch sein muss, ist dann historisch sehr unterschiedlich.
Der Rausch ist immer eine Ausnahmesituation
von Billerbeck: Nun haben Sie es ja eben auch schon erwähnt, heute lässt sich mancher richtig gehen zu Silvester und lässt es krachen, weiß, er hat morgen frei vielleicht. Und dann muss er vielleicht aber wieder ran. Nun haben wir dieses Jahr noch ein Wochenende dran, aber normalerweise kann das ja auch mal schneller gehen. Das heißt ja, dass der gesellschaftlich akzeptierte Rausch auch zeitlich begrenzt ist, und, wenn man es genau betrachtet, auch wieder reglementiert wird. Man darf nur in einer bestimmten Zeit sich berauschen.
Feustel: Ja. Die alten Feste zum Beispiel in der frühen Neuzeit waren auch zeitlich reglementiert auf mehrere Tage vielleicht, aber da gibt es auch einen relativ klaren Start und ein relativ klares Ende. Reglementiert ist es einerseits rechtlich durchaus auch, aber auch in Form einer bestimmten sozialen Kontrolle. Andererseits ist es auch eine Zwangsläufigkeit, die sich von selbst ergeben würde. Niemand kann sich ein dauerhaftes Leben im Rausch vorstellen. Da kommt dieses Wechselspiel von Rausch und Nüchternheit ins Spiel. Dass Rausch sozusagen immer nur eine Ausnahmesituation sein kann. Ob man dafür Drogen nutzt oder ob man andere Situationen nimmt, die wir gern mit diesem Begriff auch belegen, ist dann relativ egal. Es geht gar nicht anders. Reglementiert ist das in irgendeiner Form immer, zwangsläufig.
Auch Fußballspieler oder Börsenkurse können im Rausch sein
von Billerbeck: Ob wir dafür Drogen benutzen oder nicht, sagen Sie. Gibt es denn Rausch ohne?
Feustel: Das ist eine gute Frage. In der heutigen Sprechweise, mittlerweile gibt es alle möglichen Formen von Rausch. Wenn Sie sich da umhören, dann sind Fußballer bei einem guten Spiel im Rausch, die Aktienhändler können im Rausch sein, die Börsenkurse können im Rausch sein.
von Billerbeck: Und Robert Feustel? Wie kommt Robert Feustel in den Rausch?
Feustel: Da gibt es ganz unterschiedliche Wege. Ich weiß gar nicht. Ich habe mich mit dem Begriff jetzt so lange beschäftigt, dass ich die Zustände, die ich sozusagen mir selbst zufüge, gar nicht als Rausch beschreiben kann. Das ist viel zu unterschiedlich. Mir ist der Begriff zu groß, der clustert zu viel, zu einfach als Absetzungspunkt von Nüchternheit gedacht.
von Billerbeck: Das heißt aber nicht, dass Sie jetzt Ihr ganzes Leben lang ein nüchterner Mensch sind und den Rausch irgendwie ...
Feustel: Um Gottes willen.
von Billerbeck: Nein.
Begriffliche Nähe von Wahn und Rausch
Feustel: Die Nüchternheit kann ja sehr berauscht sein. Ich glaube, dass die Opposition der Begriffe so nicht ganz funktioniert. Sie haben bestimmt auch schon mal jemanden in so einem ganz – so nüchterne Menschen, die ganz konsequent irgendeine Aktion durchziehen, die können ganz schön wahnhaft wirken. Und dann gibt es auch so eine begriffliche Nähe von Wahn und Rausch, aus dem 19. Jahrhundert kommt die. Was ich sagen will, ist, dass diese strenge Opposition von Nüchternheit hier und Rausch da eine Erfindung ist, die etwas zu einfach die Dinge unterscheidet.
von Billerbeck: Und wenn wir es genauer wissen wollen, dann gucken wir in das Buch von Robert Feustel. Der Politikwissenschaftler hat über den Rausch geschrieben, eine kurze Kulturgeschichte des Ganzen. Dann rauschen Sie gut rüber!
Feustel: Ich gebe mir Mühe!
von Billerbeck: Danke Ihnen!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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