Sigrid Bauschinger: "Die Cassirers"

Fakten, Fakten, Fakten

Undatierte Aufnahme des deutschen Kunsthändlers und Verlegers Paul Cassirer (1871-1926)
Undatierte Aufnahme des deutschen Kunsthändlers und Verlegers Paul Cassirer (1871-1926) © dpa / picture alliance /
Von Eva Hepper · 26.10.2015
Der Name Cassirer steht für eine der großen jüdischen Familien, deren Sprösslinge die deutsche Kultur und Wissenschaft geprägt haben − zum Beispiel der Verleger Paul Cassirer. An die Aufgabe, diese bedeutende Dynastie darzustellen, wagt sich die Germanistin Sigrid Bauschinger.
Ein Regenschirm und ein kleiner Handkoffer – das war das Reisegepäck des über 80-jährigen Max Cassirer, als er am 15. Oktober 1938, sechs Tage nach der sogenannten Kristallnacht, Deutschland in Richtung Schweiz verließ. Alles Bitten hatte dem jüdischen Industriellen – wegen seines politischen und sozialen Engagements zuvor vielfach ausgezeichnet – nichts geholfen. 1943 starb Max Cassirer im Exil in England. Die Frage, wie der Nationalsozialismus "möglich war im Lande von Goethe", hatte ihn bis zuletzt verfolgt.
Sie hatte auch seine ebenfalls aus Deutschland geflohenen Verwandten umgetrieben: seine Tochter Edith Cassirer (1885-1982), die 1910 gemeinsam mit ihrem Mann Paul Geheeb die Odenwaldschule gegründet hatte, seine Schwiegertochter, die Rilke-Förderin Eva Cassirer-Solmitz (1885-1974) und seine Neffen, den weltberühmten Philosophen Ernst Cassirer (1874-1945) und den Verleger Bruno Cassirer (1872-1941); um nur einige wenige Mitglieder dieser bedeutenden, weitverzweigten Dynastie zu nennen.
Tatsächlich steht der Name Cassirer für eine der großen jüdischen Familien, die die deutsche Kultur- und Wissenschaftsgeschichte maßgeblich geprägt haben. Während es über einzelne Cassirers und ihr Tun umfangreiche Publikationen gibt (etwa über die Cousins Paul und Bruno und ihren Kunstsalon und Verlag), fehlte bislang das Porträt der Familie als Ganzes. An diese Mammutaufgabe hat sich jetzt Sigrid Bauschinger gewagt. Um es vorweg zu nehmen: Sie ist an ihr gescheitert.
Die emeritierte Germanistik-Professorin gliedert ihr Werk in sechs Kapitel. Sie schildert zunächst die Cassirerschen Ursprünge und unternehmerischen Anfänge in Breslau und später Berlin und würdigt anschließend chronologisch sortiert die Leben der wichtigsten Familienmitglieder bis zu deren Auswanderung.
Ereignisse und Namen in gnadenloser Reihung
So liest man zum ersten Mal in diesem Umfang von Max Cassirer (geboren 1857), dem die Biografien der Künstler, Wissenschaftler und Pädagogen der nächsten Generation folgen. Spätestens aber nach dem dritten Kapitel erlahmt der Leser. Denn Sigrid Bauschinger reiht gnadenlos Ereignis an Ereignis und Namen an Namen. Der Autorin gelingt keine konsistente Erzählung, vielmehr lesen sich ihre akribisch recherchierten Fakten wie lexikalische Einträge. Kaum mal werden die Porträtierten lebendig, bisweilen verliert man auch den Überblick, denn kinderreich war jede Generation.
Als würde die Autorin das ahnen, verlässt Bauschinger schließlich die Chronologie und widmet sich in den folgenden Kapiteln den Themen Familienstolz, Judentum und Exil. Hier schließlich versucht sie die zuvor abrupt unterbrochenen Biografien miteinander zu verflechten. Doch resultieren daraus große Zeitsprünge. So verlässt man beispielsweise Max Cassirer kurz nach seiner Auswanderung und begegnet ihm erst 250 Seiten später wieder.
Wenn die Familienbiografin am Ende noch die Leben der drei berühmtesten angeheirateten Ehefrauen, Tilla Durieux, Eva Solmitz und Nadine Gordimer, skizziert, geht ihr selbst der geduldigste Leser von der Stange.
Zu viel, zu unstrukturiert und ohne eine verbindende These gleicht dieses Familienporträt einer überbordenden Faktensammlung. So ist die Arbeit Bauschingers zwar verdienstvoll, insbesondere, weil sie viel Archivmaterial gehoben hat – ein Lesevergnügen mit Erkenntnisgewinn aber ist sie nicht.

Sigrid Bauschinger: Die Cassirers – Unternehmer, Kunsthändler, Philosophen. Biographie einer Familie
C.H. Beck, München 2015
463 Seiten, 29,95 Euro

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