"Sie müssen nach Berlin!"

Von Jörg Hafkemeyer · 13.07.2008
Berlin. Anhalter Bahnhof. Ein junger, elegant gekleideter Mann steigt am Abend des 3. Dezember 1910 aus dem Schnellzug Prag-Berlin. Geht aus dem größten Bahnhof Europas über den Askanischen Platz in das Hotel Askanischer Hof. Franz Kafka kommt das erste Mal nach Berlin. Es zieht ihn aus der Stadt an der Moldau in die Metropole an der Spree. Immer und immer wieder kommt er vor dem Ersten Weltkrieg hierher.1923, er hat noch ein knappes Jahr zu leben, zieht er nach Berlin. Eine Spurensuche mit dem Kafka-Experten Hans-Gerd Koch.
Berlin und Franz Kafka:

"Berlin war ja zur Blüte der Kaiserzeit so ein Pendant zu Paris, was die eher galanten Besuche in Großstädten anging. Hier gab`s Varietees und hier war leichtes Leben angesagt und davon wurde ihm berichtet und natürlich von der Kultur, die sich hier bot, Theater und so weiter und das hat ihn neugierig gemacht."

Franz Kafka und Berlin:

"Berlin hat Kafka nicht wirklich gut getan. Es war ein schrecklicher Winter und es war eben diese Notzeit der Inflationskrise und Kafkas Gesundheit hat hier sehr stark gelitten, so das sein Onkel, der Arzt war, bei einem Besuch im Februar ihn gedrängt hat, Berlin zu verlassen und im Süden ein Sanatorium aufzusuchen. Das hat er schweren Herzens getan. Es war aber keine Rettung mehr. Dort ist er dann am 4. Juni 1924 gestorben."

Ein windiger Sommertag. Dicke, weiße Wolken am Himmel. Dazwischen ein strahlendes Blau. Gleißendes Sonnenlicht. Eine flache Mehrzweckhalle mit einem pagodenförmigen Dach. Weiß. Davor ein Fußballplatz mit Kunstrasen. Hoch eingezäunt. Ein paar Jungen in Trikots der kroatischen Nationalmannschaft bolzen. Vor den Zäunen ein großer Platz. Sechs Bäume aufgereiht gepflanzt. Kies.

Keine Menschen. Ein Hinweisschild mit Fotografien eines alten Bahnhofs. Das ist die alte Mitte Berlins.

"Wir stehen in der Halle des Anhalter Bahnhofs. Das heißt, die Halle gibt es nicht mehr. Es gibt nur noch den Portikus zur Straßenfront hin, zum Askanischen Platz hin. Aber wir stehen da, wo eigentlich die Halle gewesen ist. Und dieser Bahnhof spielt in den Beziehungen Kafkas zu Berlin eine besondere Rolle weil es seine Auftritts- und Abtrittsbühne für seine Besuche und Aufenthalte in Berlin war."

Es ist ein kalter Dezembertag, der Dritte, des Jahres 1910. Der Schnellzug Prag – Berlin. Abfahrtszeit 12.35 Uhr. Franz Kafkas erste Reise nach Berlin. Die Moldau und Elbe entlang durchs Elbsandsteingebirge über Dresden nach Berlin. Der Zug hat keine Verspätung. Um 18.51 Uhr läuft er in den Anhalter Bahnhof ein. Der 26-jährige leidenschaftliche Theatergänger und Vegetarier ist angekommen.

"Hier kam er an so kam er an mit dem Zug aus Prag über Dresden und hier hat er dann immer vergeblich gewartet, dass seine Verlobte ihn abholt. Sie kam nie und sie hat ihn auch fast nie zum Bahnhof begleitet. Sie mochte offenbar als nicht so gefühlsbetonte, nüchterne Berlinerin diese Auf- und Abtritte nicht und so kam er denn hier alleine an."

Fast ein bisschen wehmütig zitiert das Hans Koch aus seinem Buch "Kafka in Berlin". Der schlanke, 54-jährige Mann mit einem offenen Gesicht und schütteren Haar steht alleine vor den kümmerlichen Resten des einstigen Bahnhofs der Bahnhöfe. Koch sieht in diesem Moment so versonnen aus, als schaue er in die Geschichte dieses Gebäudes, die einhundert Jahre zurückliegt.

"Dieser Bahnhof war einfach gigantisch. Es war der größte Bahnhof auf dem europäischen Kontinent. Er ist 1880 an Stelle eines älteren eröffnet worden. Nach fünfjähriger Bauzeit. Wenn man das vergleicht, in welcher Zeit heute ein Hauptbahnhof aufgestellt wird, und von den Dimensionen her konnte dieser Bahnhof sich durchaus mit dem neuen Berliner Hauptbahnhof vergleichen. Die Halle war 180 Meter etwa lang, war 35 Meter hoch, 60 Meter breit. Gigantisch. Hier bekam man pralles Berliner Leben mit."

Davon ist nichts mehr zu sehen. Langweile Konfektionsarchitektur am alten Askanischen Platz. Auch die auf ihn zuführende einst prächtige Stresemannstraße ist ruiniert. Erst kamen die Bomben. Danach der Wiederaufbau. Der keiner ist. Auch den Askanischen Hof, Kafkas Hotel gibt es nicht mehr. Sein Schicksalshotel, mit dem er im Glück wie im Unglück verwachsen ist. Dort verlobt er sich Ostern 1914 mit der jungen Felice Bauer. Dort entlobt er sich im Juli des gleichen Jahres von der jungen Tochter des Ehepaars Bauer.

Hans Koch schaut auf das gewaltige zertrümmerte Bahnhofsportal hinüber zum Potsdamer Platz, fast so, als würde er in längst vergangene Zeiten gucken:

"Wir reden über die Jahre 1910 bis 1914 mit einer Unterbrechung von 1914 bis 1923 also auch den Kriegsjahren. Ab September 1923 lebte er ein halbes Jahr in Berlin."

Eine Straßenkreuzung in Berlin-Charlottenburg.. Hans Koch geht oft hier lang. Bleibt vor einem großen Brunnen stehen. Dem St. Georgs Brunnen. Ein Wirtshaus mit über 1000 Biersorten zur Auswahl. Gegenüber an der Ecke eine Bank. Der gegenüber ein Kaffeegeschäft. Dem gegenüber ein Herrenausstatter. Hans Koch bleibt stehen und blickt an der eintönigen, fünfgeschossigen Fassade des Herrenausstatters hoch.

"Die Familie Bauer hatte vorher am Prenzlauer Berg in der Immanuelkirchstraße gewohnt in einem dieser damals Neubaugebiete in der Immanuelkirchstraße und war hier in diesen reichen Westen gezogen und das war natürlich ein Zeichen des Aufstiegs. Das war ein repräsentatives Mietshaus an der Ecke Wilmersdorfer-Ecke Mommenstraße … Wilmersdorfer Straße 73. Es steht nicht mehr, dürfte sich aber nicht sehr von dem Eckhaus auf der gegenüberliegenden Straßenseite unterschieden haben, war möglicherweise sein architektonisches Pendant. Kafka war dort an dem Pfingstwochenende 1913 erstmals zu Gast."

Berlin-Charlottenburg ist bis 1920 eine selbstständige Großstadt mit aufstrebender Mittelschicht und reichem Bürgertum. Viel Prominenz und herrlichen Villen. Herrschaftlichen Häusern, wie das in der Wilmersdorfer Straße 73, Ecke Mommsenstraße. Droschken und Fußgänger. Flaneure. Kinder, an den Händen geführt von ihren Eltern. In der Kleidung wohlhabender Leute. Kafka auch. Hans Koch setzt sich auf den Brunnenrand, schlägt sein Buch auf, liest.

"Er war gekleidet in einem leichten Sommeranzug und ich weiß nicht, ob er einen Hut getragen hat. Er hat oft einen Hut getragen. Vielleicht einen leichten Strohhut aber vielleicht war es im April noch zu kühl für einen Strohhut. Und er wird einen anderen Hut getragen haben. Kafka war immer sehr ausgesucht gekleidet, fast elegant, aber zurückhaltend elegant und er war eine Erscheinung, die auffiel."

Hans Koch hätte den jungen Kafka gern die Mommsenstraße entlang flanieren sehen. Vorbei an prächtigen Villen. Unter weit ausladenden hohen Bäumen. Wie ist dieser Mensch, der aus Prag kommt, vom Berlin der Kaiserzeit fasziniert ist?

"Scheu in gewisser Hinsicht. Er war natürlich auch selbstbewusst. Er wusste, was er darstellte. Er war sich seines Wertes bewusst."

Und er ist ein gut aussehender Mann, erzählt Koch. Eine dunkle, schlanke Erscheinung mit strahlend blauen Augen. Hans Koch sitzt noch immer auf dem St. Georgs Brunnen an der Ecke Wilmersdorfer- und Mommsenstraße. Erzählt, Kafka kommt nach Berlin des Theaters wegen. Ist von Max Reinhardt und Albert Bassermann als Hamlet fast ohnmächtig vor Begeisterung. Schreibt das seinem Freund Max Brod in Prag. Hans Koch klingt in diesem Moment so, als er habe er zusammen mit Kafka auch die rund 90 Jahre zurückliegende Aufführung im Metropol-Theater gesehen. Dann bricht Koch ab, schaut fast melancholisch über den großen Platz. Plötzlich steht er auf und charakterisiert den Autor aus Prag mit den Worten:

"Über sein eigenes Schreiben schreibt er eigentlich immer negativ. Und sagt, mein Gekritzel. Etwas in der Art. Aber es gibt eine aufschlussreiche Stelle im Tagebuch, die er unkenntlich gemacht hat. Ich habe versucht, es zu entziffern. Es ist mir auch gelungen und da steht der Satz: Ich, ich meine ich, bin das geistige Zentrum Prags. Und das zeugt ja doch von einigen Selbstbewusstsein."

Kafka ist in im zweiten Jahrzehnt des zurückliegenden Jahrhunderts in Prag Büroangestellter mit einem sicheren Einkommen, merkt Koch an.

"Er hatte also berufliche Anerkennung in hohem Maße. Aus seinen Akten, die noch existieren, sieht man, dass er auch mit großer Sorgfalt und Engagement seiner Tätigkeit nachgekommen ist."

Es gibt niemand mehr, der Kafka kennt. Der sich an ihn erinnern kann. Fußgänger eilen über die zugeparkte Mommsenstraße. Fahrradfahrer preschen zwischen den vor der Ampel wartenden Autos hindurch. Lkws schieben sich die Wilmersdorfer Straße in Richtung Kurfürstendamm. Vorbei am Haus Nr. 73, wo jetzt der Herrenausstatter ist. Hans Koch ist so etwas wie ein literarischer Spaziergänger.

Ein schlanker, sportlicher Mann. Seit 25 Jahren betreut er die Kritische Kafka-Ausgabe, ist Herausgeber der Briefbände dieser Edition sowie der zwölfbändigen Gesammelten Werke. Während er zu einem nächsten Ort geht, der für den Kafka-Spezialisten wichtig ist, macht er fast den Eindruck einen Fährtenlesers oder Spurensuchers. Er lächelt, bleibt stehen und zeigt wiederum auf ein Eckhaus von beträchtlicher Schlichtheit. Kleine Fenster, eines akkurat neben dem anderen, vier Etagen.

"Wir sind in der Mutesiusstraße, die damals noch Miquelstraße hieß. Sie ist umbenannt worden 1930 nach dem Architekten Mutesius, der 1927 unter eine Straßenbahn kam und tödlich verunglückte. Also, zu Kafkas Zeiten hieß sie noch Miquelstraße und an der Ecke Rotenburgstraße, wo heute ein Neubau steht, stand damals ein Haus, in dem eine Familie Herrmann wohnte und bei der hat Kafka ein möbliertes Zimmer gemietet, als er sich entschied, nach Berlin zu gehen."

Hans Koch erzählt, Kafka fühlt sich in Berlin-Steglitz in der Miquelstraße wohl. Es gibt viele Gärten, Parks, wenig Verkehr. Aber es gibt Frau Herrmann, die Gattin des Vermieters. Sie ist sehr neugierig. Kafka fühlt sich ständig von ihr beobachtet.

"Da gibt es eben eine sehr schöne Verbindung zu einem Text, den er hier in Berlin geschrieben hat, 'Eine kleine Frau'. Wo auch ein möblierter Herr von seiner Wirtin mit stummen Vorwürfen und Blicken traktiert wird und er sich Gedanken darüber macht, was er wohl verbrochen habe, dass sie ihm ständig diese stummen Vorwürfe macht und man darf, glaube ich, annehmen, dass Frau Herrmann das Vorbild war für diesen Text."

Der Verkehrslärm hat nachgelassen. Wenige Menschen sind in diesen Mittagstunden auf den Straßen dieses kleinbürgerlichen Viertels nahe des Steglitzer Rathauses. Hans Koch blättert in seinem jüngst erschienenen Band "Kafka in Berlin", findet eine Stelle und meint, die passt. Liest sie vor:

"Mein Potsdamer Platz ist der Steglitzer Rathausplatz, dort fahren zwei oder drei Elektrische, dort vollzieht sich ein kleiner Verkehr, dort sind die Filialen von Ullstein, Mosse und Scherl und aus den ersten Zeitungsseiten, die dort aushängen, sauge ich das Gift, das ich knapp noch ertrage, manchmal (gerade wird im Vorzimmer von Straßenkämpfen gesprochen) augenblicksweise auch nicht ertrage – aber dann verlasse ich diese Öffentlichkeit, und verliere mich, wenn ich noch die Kraft dazu habe, in den stillen herbstlichen Alleen."

1923 ist ein furchtbares Jahr. Am 3.Juli wird er 40 Jahre alt. Hat kein Jahr mehr zu leben. Seit sechs Jahren sucht ihn die Tuberkulose heim. Zu jener Zeit unheilbar. Neun Jahre ist Kafka nicht nach Berlin gekommen. Der Erste Weltkrieg hält ihn in Prag fest. Die Krankheit auch. Doch er will nach Berlin zurück. Zu Dora Diamant, seiner neuen Geliebten. Die verspricht ihm, ihn zu pflegen. Er ist sehr geschwächt, abgemagert, wiegt wenig mehr als 50 Kilogramm. Fiebert. Sucht Ruhe, das Grüne in der Steglitzer Miquelstraße. Hat zunehmend Angst vor der Stadt. Liest, schreibt.

"Er war in literarischen Kreisen bekannt, in Steglitz wahrscheinlich nicht. Das zeigt sich vielleicht auch daran, dass die Straße, in der er zuletzt gewohnt hat in Zehlendorf, die ist nach dem Schriftsteller benannt, in dessen Haus er eingezogen ist, aber nicht nach Franz Kafka. Dort war eben Karl Busse bekannter als Kafka."

Hans Koch dreht sich um, schaut ein letztes Mal auf die Stelle, wo Kafka zum ersten Mal in Berlin, ein Zimmer hat und sagt noch, dass es von dem ursprünglichen Gebäude kein Foto gibt. Es ist verschwunden. Der Kafkadetektiv stößt bei seiner Spurensuche häufig auf Orte, die es nicht mehr gibt. Zusammengebombt, abgerissen, fast alle.

Weiter geht er durch ein paar Nebenstraßen, dichte Baumreihen, vierstöckige Häuser, weniger aus der Zeit vor einhundert Jahren. Als die Stadt bebt und brodelt. Tondokumente gibt es wenig. Wie wird im Berlin vor dem Ersten Weltkrieg im zweiten Jahrzehnt des vergangenen Jahrhunderts gesprochen. Was hört Kafka? Der Detektiv ist auf Mutmaßungen angewiesen.

"Ich glaube, man macht sich heute kein Bild davon, dass das Berlinische, das Idiom, das für die Stadt auch stand, von sehr breiten Kreisen gesprochen wurde, auch von gebildeten Kreisen. Man hat dieses Wort von Parvenuepolis gebraucht, was mit dem Aufstieg der Stadt aus den Gründerjahren heraus in die Kaiserzeit, in die wilhelminische Zeit hinein natürlich auch eine gewisse Begründung hatte, aber durch diesen Aufstieg zur Reichshauptstadt waren die Menschen natürlich auch stolz auf ihre Herkunft und man hat eben das Berlinische auch hervorgekehrt im Verkehr mit anderen Landsleuten, die halt aus anderen Regionen kamen."

Die Grunewaldstraße ist 1923 eine stille Straße im Vorort Steglitz. An diesem Nachmittag ist sie es nicht. Autos, Busse, Lastwagen, Motorräder. Hans Koch biegt in sie ein, bleibt vor einem grauen, unscheinbaren zweistöckigen Haus stehen und sagt überraschend: Ich muss etwas zugeben. Was?

"Ich hätte ihn gern gehört natürlich. Das wäre spannend, wenn wir seine Stimme wirklich hören könnten. Er hätte natürlich die Möglichkeit gehabt, seine Stimme aufzuzeichnen, denn seine Verlobte war eine Marketingleiterin für ein Diktiergerät, das damals Parlograf hieß und eine Sache war, die Kafka ins Staunen versetzte, dass man mit diesem Gerät dann Briefe diktieren konnte, die später eine Sekretärin abhörte und tippte."

Aus einer Seitenstraße rumpelt ein Lkw mit Anhänger. Voll mit grauem, staubigen Bauschutt. Eine Schubkarre verkehrt rum oben drauf, Reste eines Bücherregals. Einzelne, gedrungene, freistehende, dunkle Häuser mit kleinen, wenig gepflegten Vorgärten in der Straße. Hans Koch schaut ernst.

"Wir stehen jetzt vor der Grunewaldstraße 13, zwei Gassen entfernt von der Miquelstraße, sind hierher den Weg gegangen, den Kafka beim Umzug auch gemacht hat und wir stehen vor dem einzigen Haus, das bis heute erhalten ist, in dem Kafka 1923/1924 in seiner Zeit in Berlin gelebt hat. Alle anderen existieren nicht mehr. Dieses Haus steht noch und es sieht und es sieht noch sehr ähnlich aus … eine Villa für zwei Familien gedacht. Er hat im ersten Stock gewohnt. Hatte dort zwei Zimmer, eins nach hinten raus, mit Morgensonne, wie er schreibt, und eins nach vorne raus."

Der Botanische Garten ist nahe. Kafka spaziert, schwach, wie er ist in ihm. Der Grunewald ist auch nicht weit weg. Dorthin hat er es nicht mehr geschafft. Es wird ein kalter Inflationswinter zur Jahreswende 1923/1924. Seine Pension aus Prag bekommt er zwar in tschechischen Kronen. Doch wenn er sie umtauscht, muss er das Geld umgehend ausgeben. Die Inflation ist brutal. Er bittet seine Eltern, Butter nach Berlin zu schicken. Wer Butter hat, ist reich in jenen Monaten. Ein Päckchen Butter kostet im September 1923 1,6 Millionen Mark. Butter ist Zahlungsmittel.

Die Eltern schicken sie. Der Paketbote liefert sie in der Grunewaldstraße 13 recht regelmäßig ab.
Hans Koch zeigt auf eine weiße große Tafel am Haus, die, wie es auf ihr heißt, an den österreichischen Schriftsteller Franz Kafka erinnert. Merkwürdig. Koch klärt auf. Kafka ist in Österreich-Ungarn geboren, lebt in Deutschland und in der neu gegründeten Tschechischen Republik, ist Jude und schreibt Deutsch. Das führt zu Zuordnungsschwierigkeiten.

"Und auch in der tschechischen Republik … ich hab einmal dort in einem Ort mit jungen Menschen zusammengesessen, in dem Kafka auch gewesen war, abends und sie haben mich gefragt, warum ich dort bin und ich habe ihnen erzählt von Kafka, und sie waren völlig erstaunt, zu hören, dass der auf Deutsch geschrieben hat und das dort in dem Ort, der ehemals deutschsprachiges Gebiet war, überhaupt Deutsch gesprochen worden ist. Das war ihnen völlig unbekannt."

Wie so Vieles, fügt Koch noch hinzu. Immer noch vor dem Haus in der Grunewaldstraße 13 stehend. Kafka ist faszinierend für ihn, sagt er und vieles entdeckt der Spurensucher erst nach und nach. Steigt dem jungen Mann aus Prag, dem Verwaltungsangestellten und Schriftsteller hinterher. Entdeckt das letzte Foto, schwarz-weiß, dass Kafka 1923 bei Wertheim am Potsdamer Platz, dem größten Kaufhaus in Europa, von sich machen lässt. 39 Jahre ist er alt.

Koch schlägt die Seite 120 in seinem Buch auf, schaut vom Foto auf das Haus mit der Nr. 13 und wieder auf die Fotografie zurück. 85 Jahre ist sie alt.

Dunkle, wellige, nach hinten gekämmte Haare. Ein tiefer Haaransatz. Große Ohren. Das rechte oben spitz. Das linke oben rund. Wie bei dem Dadisten Walter Mehring, einem berühmten Zeitgenossen. Die Augen: Sie prägen den Gesichtsausdruck Franz Kafkas. Hell, nicht starrend, nicht stechend. Nein, eindringlich, intensiv. Der Blick unausweichlich. Ein sympathischer Zug um den leicht geschwungenen Mund unter einer kräftigen Nase. Koch kann den Blick von dem Foto nicht lassen. Es zieht den Betrachter an. Vergessen ist für einen Moment das Haus, der Wind, das Vogelgezwitscher. Das kleine Foto vermittelt den Eindruck, als werde der Betrachter von Kafka angeschaut.

Ein aufgeschlossen wirkender junger Mann. Das ist er auch, sagt Koch. Aufgeschlossen der Technik, bei aller Skepsis. Aufgeschlossen der körperlichen Ertüchtigung, Vegetarier.

Das in den schwierigen ersten zwei Jahrzehnten des vergangenen Jahrhunderts. Eine neue Zeit zieht auf. Ein großer Krieg auch. Deutschland ist kriegerisch.

"Wenn wir jetzt von dem Ersten Weltkrieg sprechen, dieses Denken…., er war davon nicht ganz frei. Also, diese Kriegsbegeisterung, die 1914, Ende Juli, Anfang August, die Menschen im Deutschen Reich aber auch in Österreich-Ungarn erfasste, die hat ihn auch erfasst. Er hat dann sehr schnell auch gemerkt, wie hohl und verlogen auch diese Begeisterung war und schreibt darüber im Tagebuch, dass gerade dort viele sich zu abendlichen Umzügen vor das Rathaus zusammen finden und dann dort demonstrieren ihre Kaisertreue, die sehr schnell aber auch wieder auf eine andere Seite schwenken können und das stieß ihn einfach ab."

Hans Koch schaut wieder auf das Kleine Bild Kafkas aus dem Jahr 1923. Beschreibt seinen Tagesablauf: Zwischen sieben und acht Uhr Aufstehen. Später ein kurzes Ausruhen. Um 11 Uhr eine Zwischenmalzeit. Später Mittagsessen. Lesen. Allein oder mit der Freundin Dora Diamant. Nachmittags das Studium hebräischer Texte. Bei gutem Wetter ein Spaziergang im Botanischen Garten. Abends gehen sie fast nie aus. Die Karten sind zu teuer. Kafka zu schwach.

Koch schaut am Haus hoch, das für ihn der bauliche Zeuge einer Zeit ist, die in Vergessenheit geraten ist, sagt er sehr nachdenklich. 1923 herrscht in der Stadt fünf Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkriegs bittere Not für die Menschen.
In diese Stadt kommt Kafka im September aus einem reichen jungen Land Tschechoslowakei. Es ist das Jahr vor seinem Tod. Koch vermutet, der harte Inflationswinter tut sein Übriges. Nicht nur die Tuberkulose rafft Kafka dahin. Er wiegt noch 53 Kilo bei einer Körpergröße von 1,80 cm. Dora Diamant ist immer an seiner Seite. Ihretwegen ist er da. Ohne sie ist seine zweite und letzte Berliner Zeit nicht möglich.

"Er hatte Phasen, wo er fiebrig war und das Bett hüten musste und da brauchte er einfach eine Betreuung und ohne sie hätte er dieses Wagnis nicht eingehen können. Das war hier in diesem Haus. Wo sie gelebt haben. Zum Teil auf Teelichtern Essen aufgewärmt haben und unter bescheidenen Lebensverhältnissen versucht haben, diese schreckliche Zeit zu überstehen."

Aus der nahen, schmalen Seitenstraße rumpeln zwei Lieferwagen, rollen bis zur Ecke Grunewaldstraße vor. Hans Koch schaut traurig auf das finster wirkende Haus mit seinem kleinen, sechsstufigen Aufgang zu einer Holztür. Der Hauseingang.

Franz Kafka schafft es über den Winter, erzählt Koch mit ruhiger Stimme, den Kopf leicht schräg nach rechts geneigt.
Sein Freund Max Brod kommt am 14. März 1923 aus Prag nach Berlin.
Franz Kafka wiegt mit schwerer Winterkleidung noch 49 Kilo.
Drei Tage später. Der Anhalter Bahnhof. Kafkas Auftritts- und Abtrittsbühne.
Dora Diamant verabschiedet sich an diesem 17. März von ihrem zu Tode erkrankten Geliebten.

Ein Schnellzug nach Prag mit Franz Kafka rollt zum letzten Mal aus diesem Bahnhof. Dora Diamant verlässt den Bahnsteig, fährt nach Hause in die Grundewaldstraße. Ein paar Wochen später, es ist Frühling, packt sie rasch ein paar Sachen zusammen, eilt mit dem Zug nach Klosterneuburg. Trifft Kafka im Sanatorium, weicht nicht von seiner Seite. Betreut in hingebungsvoll.

Einen Monat vor seinem 41.Geburtstag, am 3. Juni 1924 stirbt Franz Kafka.

Hans Koch blättert in seinem roten Buch, sucht Zitate, findet eins.

1910 schreibt Kafka einer Freundin: "Sie müssen nach Berlin."
1914 schreibt Kafka seinem Freund Max Brod: "Berlin tut mir von allen Seiten gut."

Hans Koch schaut beim Gehen hoch. Bleibt stehen, zeigt auf die Seite 134, wo er Kafkas letzte Abreise1924 beschreibt und sagt, "Dieses Mal hat Berlin ihm nicht gut getan.

Hans Koch verabschiedet sich und geht davon.

Das Haus mit der Nummer 13 in der Grunewaldstraße steht ganz still da. Keine Kinder im Garten. Kein Spielzeug. Keine Fahrräder. Keine Geräusche. Keine Bewegungen. Passanten hassten vorbei. Ahnungslos. Ein Windstoß fegt die Straße hinunter. Blätter wirbeln hoch. Ein letzter Blick auf die weiße Tafel, die an Franz Kafka erinnert.