"Sie hat sich ausgezeichnet dadurch, dass sie gut zuhören konnte"

Anja Röhl im Gespräch mit Ulrike Timm |
Rückhaltlos subjektiv schildert Anja Röhl ihre Erinnerung an Ulrike Meinhof, die zweite Frau ihres Vaters Klaus Rainer Röhl. Nicht die spätere RAF-Terroristin ist der Gegenstand ihres Buches, sondern eine engagierte, sensible Frau - "im Privaten habe ich sie sogar als ganz besonders friedfertig erlebt".
Ulrike Timm: Kind sein heißt, allein sein, schuld sein, brav sein müssen. Kind sein heißt, sich nicht wehren zu können – so erlebt es Anja Röhl in ihrer Jugend in den 1950-ern und beginnenden 1960-ern, als Tochter einer alleinerziehenden Mutter, ein Trennungskind in der damals recht piefigen Bundesrepublik, und das schildert sie ganz aus der Kinderperspektive. "Die Frau meines Vaters", so heißt ihr Buch, und die Frau, bei der die verschreckte, kleine Anja schließlich Halt findet und die ihr Zutrauen stärkt, das ist die zweite Frau ihres Vaters, das ist Ulrike Meinhof, in den 1960-ern eine bekannte Journalistin, später dann Deutschlands meistgesuchte Terroristin der RAF, 1976 gestorben, gemeinsam mit anderen Terroristen der RAF.

Deutschland hatte seinen heißen Herbst, da war Anja Röhl gerade 21. Jetzt, viele Jahre später, erscheint ihr Buch, "Die Frau meines Vaters", und Anja Röhl ist zu Gast im Studio. Herzlich Willkommen.

Anja Röhl: Ja, guten Tag.

Timm: Was war Ihnen eigentlich am Wichtigsten: die Selbstvergewisserung der eigenen Kindheit, oder wollten Sie vor allem das Bild der Ulrike Meinhof um eine, um Ihre Facette ergänzen?

Röhl: Genau, das Zweite. Ich habe lange an dem Buch gearbeitet, und das Buch ist auch schon ein langjähriger Prozess gewesen der Auseinandersetzung mit diesem ganzen Erlebnisbereich meiner Kindheit und meines Jugendalters. Und ich habe zunächst diese Traumata, die ich da erlebt habe, verarbeiten müssen, und dann war ich konfrontiert schon ab meinem 17. Lebensjahr mit den Veröffentlichungen, die es dann dazu gab, die erste war von meinem Vater selbst geschrieben. Und diese Veröffentlichungen über sie, die haben mir damals schon sozusagen eingegeben, dass ich das vollkommen anders erlebt habe, und deswegen so ein ganz starkes Bedürfnis hatte, meine Sicht auch irgendwann mal zu veröffentlichen.

Timm: Sie haben Ulrike Meinhof als Kind kennengelernt, als die zweite Frau Ihres Vaters. Wie und was haben Sie da erlebt mit ihr?

Röhl: Sie war vor allen Dingen anders als die anderen Erwachsenen, die um mich herum waren, und das war eigentlich das Besondere und das ist auch der Grund, warum ich so viel von meiner Kindheit beschreibe, um diesen Unterschied deutlich zu machen. Sie hat sich ausgezeichnet dadurch, dass sie gut zuhören konnte, dass sie mich ganz anders wahrgenommen hat. Ich habe mich auf einer gleichberechtigten Ebene von ihr akzeptiert gefühlt, und das war ein großer Gewinn, ein großes Wunder, eine besondere Sache, die ich so bis dahin von anderen Erwachsenen nicht erlebt hatte.

Timm: Ulrike Meinhof und Klaus Rainer Röhl waren in den 1960-ern ein bekanntes linkes Journalistenpaar. Sie waren ein kleines Mädchen, das vieles erlebt hat, worüber Ulrike Meinhof schrieb: Sie waren ein Trennungskind, zeitweise im Kinderheim. War das das Verbindungsglied zwischen dem Kind und der engagierten jungen Frau?

"Sie versteht meinen Schmerz"
Röhl: Vielleicht, ja. Je mehr ich darüber schrieb, wurde mir klar, dass da Verbindungen sind. Ich habe sozusagen das Gefühl gehabt, sie versteht meinen Schmerz, meine Situation in dieser Isolation, in der ich war, und in der Verzweiflung, wie ich oft den Erwachsenen ausgeliefert mich gefühlt habe. Und ich hatte das Gefühl, dass sie das als Einzige verstehen kann.

Timm: Sie recherchierte damals auch über Heimkinder, über soziale …

Röhl: Genau, und sie erzählte natürlich davon auch, und ich war auch wach und ich war keineswegs jetzt nur ein verschrecktes Kind, ich war auch geistig sehr rege, ich habe auch selber die Zeitung "Konkret" gelesen, schon als Jugendliche, schon als Kind.

Timm: Die Zeitung, für die Ulrike Meinhof und Ihr Vater Klaus Rainer Röhl schrieb damals.

Röhl: Genau. Mein Vater hatte ja die Zeitung gegründet, und Ulrike Meinhof war da Chefredakteurin in der Zeit, und ich las auch ihre Artikel, und es waren eben diese Verbindungen zwischen dem, was sie schrieb und wie sie zu mir war, was so besonders war.

Timm: Das Buch ist geschrieben aus der Kinderperspektive. Hilft das bei der Schilderung Ihrer Ulrike Meinhof? Denn an der späteren, gewalttätigen Terroristin kommen Sie ja auch nicht vorbei.

Röhl: Ich habe deshalb für das Buch eine Literarisierung gewählt, und zwar habe ich sozusagen das Buch in drei Teile aufgeteilt und drei Hauptpersonen gewählt: das Kind, das Mädchen, die junge Frau. Und in diesen drei Personen, die alle drei natürlich mich symbolisieren, schaffe ich eine Distanz, und es wird jeweils der Blickwinkel dieser Person komplett eingenommen auf Ulrike. Und das war für mich eine wichtige Sache, dadurch kann ich, glaube ich, mich dieser Person besser nähern.

Timm: Und Sie konnten die gewalttätige Terroristin, an der Sie auch nicht vorbei können, trennen von der Frau, die Sie geliebt haben als kleines Mädchen.

Röhl: Unter anderem war das auch sehr schwer für mich natürlich. Diese Gewalttätigkeit habe ich natürlich von ihr so nie erlebt in dem privaten Bereich. Im Privaten habe ich sie sogar als ganz besonders friedfertig erlebt. Und als die Politik sozusagen in unser Familienleben einbrach, war das für mich natürlich ein Trauma, mit dem ich auch sehr schwer zurechtkam und dem ich mich auch sehr schwertat und auseinandersetzen lernen musste erst.

Timm: Auch um die Frau, die Sie in Ihrer Erinnerung haben, behalten zu können?

Röhl: Also die vielen Jahre, die ich sie erlebt habe, und die wenigen Jahre, die sie dann sozusagen als RAF-Mitglied gelebt hat, die stehen ja in keinem Verhältnis zu dem, wie diese Person öffentlich diskutiert wird. Heutzutage sieht man in ihr ja fast nur noch die RAF-Terroristin, und man weiß ja nicht mehr, dass sie ja eine bedeutende Journalistin war, die ein Millionenpublikum sozusagen beschrieb. Und ich wollte eigentlich diesen Aspekt ihres Vorlebens beschreiben, aus dieser Kinderperspektive, und mich eben weniger mit ihr auseinandersetzen als RAF-Mitglied. Das ist nicht meine Aufgabe. Ich habe sozusagen diesen rückhaltlosen Subjektivismus gewählt, diesen ganz, ganz subjektiven Blickwinkel auf diese Person, mit der ich vielleicht ein bisschen beisteuern kann zu einer anderen Wahrnehmung ihres Charakters, als es bisher in der Öffentlichkeit üblich ist.

Timm: Wann haben aber Sie als junge Frau, als Anja Röhl begonnen, sich Fragen zu stellen: Wie stand Ulrike Meinhof zu Gewalt? Der kann man ja nicht ausweichen mit 19, 20, wenn man kein Kind mehr ist.

Röhl: Die habe ich mir doch sofort gestellt, die Fragen. Die habe ich mir ja schon gestellt, als ich davon erfuhr, dass sie gesucht wird. Das war für mich schrecklich, mir vorzustellen, dass sie gewalttätig sein könnte. Und diese Situation, wie ich jetzt die RAF einschätze oder Ulrike in ihrer politischen Haltung zur RAF, das ist etwas, was nicht Thema des Buches ist.

"Viele private Szenen gestrichen"
Timm: Deutschlandradio Kultur, das "Radiofeuilleton" im Gespräch mit Anja Röhl über ihr Erinnerungsbuch "Die Frau meines Vaters", das ursprünglich "Die Mutter meiner Schwestern" heißen sollte. Und damit sind wir mittendrin in einer jahrzehntealten Familienfehde, denn den ursprünglichen Titel hat Ihre Halbschwester, die leibliche Tochter von Ulrike Meinhof, verhindert. Sie möchte nicht genannt werden. Das Buch erscheint nun mit Schwärzungen. Das deutet der Verlag als Protest. Inwiefern und Protest gegen was?

Röhl: Das kann ich jetzt so, was Sie gesagt haben, nicht unterschreiben, weil wir hatten Verhandlungen mit beiden meinen Halbschwestern, und da ging es ursprünglich nicht um nur den Titel, sondern es ging vor allen Dingen um die Wahrung der Privatsphäre. Das kann ich auch nachvollziehen, dass meine Geschwister hier ihre Privatsphäre gewahrt haben möchten. Das Problem ist nur, dass ich eben mein Leben nicht schildern kann in dieser Konstellation, wenn ich von den Menschen, die ich damals absolut geliebt habe, meine Geschwister, wenn ich von denen nichts erzählen darf. Und also muss man sich annähern. Und wir haben schon in dem Buch über 30 Seiten gekürzt, und damit war ich auch einverstanden. Viele private Szenen sind sozusagen schon für die Wahrung der Privatsphäre gestrichen worden.

Und die jetzigen Seiten, das sind jetzt fünf Seiten in dem ganzen Buch noch, die übrig geblieben sind, das sind ausnahmslos sehr innige Szenen, in der ich meine Geschwister beschreibe, wie ich sie liebhatte, oder wie innig sich Ulrike ihnen zuwandte. Und da konnten wir uns dann nicht mehr einigen, und diese Stellen wollte ich unbedingt drin behalten, und aus Protest sind die dann geschwärzt worden. Und ich hoffe immer noch, irgendwann kann man sie wieder lesen.

Timm: Eine wichtige Rolle in dem Buch spielt der Vater, Klaus Rainer Röhl, prominenter Linker auch er damals. Sie haben ihn vor allem als unzuverlässig, als klebrig in seiner Zuneigung bis hin zu sexuellen Übergriffen auf Sie erlebt. Auch über diese Passagen gibt es in Ihrer Familie Streit. Ich vermute mal, Sie, Ihre Schwestern, Ihr Vater – wenn überhaupt, wird nur noch über Anwälte kommuniziert. Ist das so?

Röhl: Also wie wir da heute kommunizieren, dazu möchte ich jetzt gar nichts sagen, das ist nicht Thema des Buches. In dem Buch schildere ich meinen Vater so, wie das Kind, das Mädchen und die junge Frau ihn erlebt hat. Und da ist einfach Erinnerung an Erinnerung gefügt, das ist mein subjektiver Blickwinkel, und diese Person ist sehr schillernd, sehr schwierig. Und ich habe darunter, unter bestimmten Eigenschaften von ihm, sehr gelitten, und davon ist die Rede zum Teil in dem Buch.

Timm: Die Zwillingsschwestern, die das Kind und die junge Frau, nämlich Anja Röhl, Sie, sehr geliebt hat, die haben erlebt, dass die Mutter sie verließ, um in den Untergrund zu gehen. Es kam zu einer spektakulären Entführung und Befreiung der Halbschwestern. Jeder hat in dieser Familiengeschichte seine Wahrheit.

Röhl: So ist es.

Timm: Können Sie die Sicht Ihrer Schwestern, wenn Sie sie auch nicht teilen, zumindest irgendwo verstehen?

Röhl: Natürlich. Also ich verstehe natürlich, dass meine Geschwister sich von Ulrike verlassen fühlen, und ich verstehe auch Wut, Verzweiflung, alles, was sich daraus entwickelt hat. Aber dazu würde ich am liebsten auch nichts sagen wollen, weil dazu müssen Sie sie selbst befragen, beziehungsweise dazu haben sie auch schon sehr viel gesagt. Ich habe mich da zu diesem Thema noch nicht geäußert oder noch nicht häufig, sondern habe mich da eher zurückgehalten, und ich habe tatsächlich eine andere Sichtweise auf den Charakter von Ulrike Meinhof, und ich habe bestimmt auch ein großes Bedürfnis immer gehabt, meine Erlebnisse und Erinnerungen so zu schildern, dass auch meine Geschwister meine Sichtweise verstehen können.

Timm: Anja Röhl über ihr Buch "Die Frau meines Vaters", ihre Erinnerungen an Ulrike Meinhof, erschienen bei Nautilus, 160 Seiten kosten 18 Euro. Frau Röhl, vielen Dank für Ihren Besuch hier im Studio.

Röhl: Bitte schön.


Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Klaus Rainer Röhl und Ulrike Meinhof auf dem Deutschen Derby, 1966
Klaus Rainer Röhl und Ulrike Meinhof 1966© Europäische Verlagsanstalt
Mehr zum Thema