„Sie hat mich sehr nah rangelassen“

Moderation: Gabi Wuttke |
Zwei Jahre, bis zu ihrem Tod im Februar letzten Jahres, begleitete die Filmemacherin Anna Ditges die Dichterin Hilde Domin – auch mit der Kamera. „Ich will dich. Mit guten Wünschen für unseren Film“, das schrieb Hilde Domin auf eine Restaurant-Quittung. Da war die große Dichter-Dame 95 Jahre alt, Anna Ditges 26.
Gabi Wuttke: Ein Altersunterschied von fast 70 Jahren lag zwischen der Dichterin und der Filmemacherin. Anna Ditges ist jetzt am Telefon. Ich grüße Sie, guten Tag.

Anna Ditges: Guten Tag.

Wuttke: Ihr Projekt „Hilde Domin“ begann in einem Buchladen. Erzählen Sie uns doch die Geschichte von Anfang an.

Ditges: Ja, es war wirklich ein Glückstreffer, würde ich sagen. Ich stand in der Buchhandlung, eine Verkäuferin schob mich beiseite und sagte: „Lassen Sie mich doch mal hier die Domin einsortieren.“ Ich guckte dann, die Domin, ich kannte sie nicht. Das war der kleine Gedichtband „Nur eine Rose als Stütze“, der mir da also dann wortwörtlich in die Hände gelegt wurde.

Und ich habe diesen Band gekauft und zu Hause mit Begeisterung gelesen. Und diese Gedichte haben mich eben so berührt und bewegt, dass ich dachte, diese Frau, die musst du unbedingt kennenlernen.

Wuttke: Bis Sie sie kennenlernten, verging dann noch mal ein halbes Jahr, aber irgendwann standen Sie vor Hilde Domins Tür. Und wer öffnete, war eine sehr rüstige, sehr elegante Dame mit einer, wie ich fand, doch recht schroffen Art. War das für Sie trotzdem Sympathie auf den ersten Blick, oder haben Sie auch erst mal geschluckt?

Ditges: Es war auf jeden Fall Sympathie auf den ersten Blick. Ich war von Anfang an sehr begeistert von Hilde Domin, und es war eben auch in ganz hohem Maße ihre so lebendige und so direkte Art, die mich so angesprochen hat. Und natürlich war es manchmal so, es kommen ja auch Szenen in dem Film vor, wo sie schon mal sagt, jetzt Schluss mit dem Filmen oder mach die Kamera aus, keine Lust mehr.

Dann habe ich mich, weil sie da auch sehr vehement war manchmal, erst mal sehr erschrocken, habe direkt die Kamera ausgestellt und dachte, oh Gott, diesen Film wirst du nie machen können mit ihr. Ich habe dann aber ziemlich bald gemerkt, dass dann zu meiner großen Überraschung im nächsten Moment das Filmen und die Kamera für sie überhaupt kein Problem mehr waren und ich dann also ganz selbstverständlich für sie weiterfilmen durfte.

Sie hat auch nie geäußert, sie möchte nicht mehr diesen Film weitermachen oder so, sondern im Gegenteil, sie hat auch dieses Interesse und diese Aufmerksamkeit sehr genossen.

Wuttke: Sie hatten bei ihrem ersten Besuch Rosen dabei. Hilde Domins Wohnung war immer, das kann man sehen, voller Rosen. Mussten Sie sie ein bisschen um den Finger wickeln, war das Strategie. Oder wussten Sie, dass Sie da tough sein müssen?

Ditges: Die Rosen hatte sie immer da. Sie hat von allen Seiten Rosen geschenkt bekommen, und sie hat auch die Rosen übrigens bestellt. Also wenn ich kam häufig, hat sie dann gesagt, ja, bring noch die und die Rosen mit, wenn sie keine da hatte. Also Rosen hatte sie immer. Manche fragen mich ja, sie hat doch immer die gleichen Rosen irgendwie in der gleichen Farbe. Ja, es war nun mal eine Farbe, die sie sehr gerne mochte.

Wuttke: Teerosen.

Ditges: Ja, genau.

Wuttke: Und warum, glauben Sie, liebte sie diese Rosen so sehr? Sie hat selbst gesagt, Walter Jens hat in Bezug auf diese Rosen als Stütze gesagt, die Rosen seien ihre Worte. Aber ich glaube, es ging noch weit darüber hinaus, oder?

Ditges: Ja, sicherlich. Ich meine, die Rose ist ja auch in erster Linie vielleicht eine Metapher, ein Bild für die Liebe. Es ist auch in ganz starkem Maße die Liebe zu Erwin, die durch die Rosen ... wie sie auch mit den Rosen die kleinen Altäre, die sie überall von Erwin, also ihrem Mann aufgebaut hat, eben bestückt und pflegt. Es ist natürlich auch im Film ein Zeichen auch für unsere Begegnung. Es gibt verschiedene Dinge, die diese Rosen ausdrücken.

Wuttke: Frau Ditjes, es gab Dinge, das haben Sie schon gesagt, da war sie manchmal etwas wütend, wenn die Kamera sie immer verfolgte. Sie wollten aber auch Sachen von ihr wissen, da würde sie wütend und da wollte sie eigentlich nicht weiter gefragt werden. Sie sind immer sehr hartnäckig drangeblieben. Was waren die neuralgischen Punkte im Leben von Hilde Domin?

Ditges: Das fällt mir jetzt ein bisschen schwer zu beantworten. Ich denke halt, dass sicherlich ein sehr wichtiger Punkt in ihrem Leben war der Tod ihrer Mutter. Das war ja auch der Moment, in dem sie angefangen hat zu schreiben. Sie nennt diesen Zeitpunkt selbst ihre zweite Geburt, da wurde sie zur Domin.

Und natürlich hat aber mit diesem Schreiben ihrerseits auch ein Konflikt begonnen mit ihrem Ehemann, der seinerseits ebenfalls Dichter war und schrieb. Und das wird auch angesprochen im Film.

Wuttke: Es ging aber auch um ihre Flucht vor den Nazis in die Dominikanische Republik, eine Insel, wo sie aus einer Diktatur in eine andere Diktatur fliehen musste. Auch dazu wollte sie sich eigentlich nicht äußern.

Ditges: Ja, also es ist natürlich aus heutiger Sicht immer sehr schwer, solche Dinge, sage ich mal, zu beurteilen. Ich denke, dass sie in einer sehr, sehr schwierigen Lage war. Sie waren damals in England. Nachdem sie einige Jahre in Italien verbracht hatten, waren sie ‛39 in England. Und sie hatten nie vorgehabt, Europa zu verlassen.

Deswegen hatten sie auch kein Visum für zum Beispiel Nordamerika, weshalb es sich eben anbot, in die Dominikanische Republik überzusiedeln. Dass das natürlich auch eine schwierige Entscheidung war und auch sicherlich sie vor viele Probleme gestellt hat später, ist klar.

Im Film wird das deutlich, dass es für sie auch sicherlich ein innerer Konflikt war. Und ich greife dann aber eben auf ihre autobiografischen Schriften zurück, in denen sie sich sehr explizit dazu äußert, indem sie sagt, Trujillo war ein furchtbarer Diktator, und man konnte ihm weder dankbar sein, noch konnte man ihm nicht dankbar sein, als Exilant, der dort eben aufgenommen wurde.

Wuttke: „Ich liebe dich, aber die Kamera liebe ich nicht“, sagt Hilde Domin in Ihrem Film zu Ihnen. Wie nah hat Sie sie wirklich rangelassen?

Ditges: Ich glaube, sie hat mich sehr nah rangelassen. Und ich bin sehr, sehr dankbar dafür, also ich sehe das als ein sehr großes Geschenk, nicht nur als eine persönliche Bereicherung. Sondern das hat auch wirklich es möglich gemacht, dass ein Film entsteht, der vielschichtig ist und der ihre Persönlichkeit eben auch in ihrer Vielschichtigkeit zeigt.

Der nicht nur eine Domin zeigt, wie man sie vielleicht in einem üblichen Porträt hätte kennenlernen können, sondern der sie auch zeigt in ihrer Widersprüchlichkeit und auch in ihrer Fähigkeit, Mensch des Dennoch zu sein, wie sie sich selbst beschrieb, und dagegenzuhalten und zu reagieren, wie sie es sich auch noch in einer ganz späten Szene im Film wünscht.

Wuttke: Hilde Domin war verwitwet, kinderlos, machte zwar immer noch Lesungen, aber sagte, dass es ihr schon schwerfiele, immer allein zu sein. Zu zweit zu sein mit ihrem Mann, das wäre schön gewesen bis zum Ende ihres Lebens. War diese Einsamkeit auch ein Grund, dass sie den Film zugelassen hat, dass sie Sie zugelassen hat in ihrem Leben?

Ditges: Ich denke schon, dass es sicherlich für Sie sehr schön war, mit mir einen Menschen zu haben, der sich brennend für sie interessiert, der sie sehr, sehr liebt und sehr mag. Das war immer klar und das hat sie auch erwidert, diese Zuneigung hat sie auch erwidert für mich. Und ich denke halt, wir haben wirklich sehr viel Zeit miteinander verbracht.

Und wenn ich da war, das waren ja häufig dann lange Wochenenden, die ich sie besucht habe, war ich wirklich von morgens früh bis abends spät – rein theoretisch auch nachts, ich habe ja dann im Nebenzimmer geschlafen – für sie ansprechbar. Und diese große Nähe, die sie sich auch sehr gewünscht hat, die sie häufig auch eingefordert hat – ich durfte auch nichts anderes machen dann während dieser Zeit –, die war für sie sicherlich sehr besonders.

Wuttke: Über den Tod erfahren wir in Ihrem Film wenig. War Hilde Domin allein, als sie starb?

Ditges: Ja, war sie. Sie ist leider gestürzt. Ihr Tod war sicherlich für viele ein Schock, für mich war er das auch. Und ich habe sehr lange gebraucht, um diesen Tod überhaupt zu verarbeiten.

Ich habe sie dann natürlich im Schnitt auch lange lebendig vor mir gehabt, ihr Bild also auf dem Monitor, wie sie mich anlacht, und ich habe dann erst wirklich nach vielen Monaten – ich habe ja ein Jahr geschnitten – habe ich mich erst in dem Kapitel „Alter, Einsamkeit und Tod“ genähert, was dann auch das Ende des Films ausmacht.

Und übrigens ganz lange mit mir gehadert, ob ich diese Beerdigung aufzeichne vorher. Ich habe es dann getan und ich habe sie auch in den Film integriert. Sie durfte aber auf keinen Fall am Ende stehen, sonst hätte ich sie nicht zum Bestandteil des Films gemacht, sondern mir war eben wichtig, dass danach ihre Gedichte stehen, dass die Liebe bleibt, dass sie noch mal zu sehen ist, und ja, eben dass die Liebe und der Geist, dass das bleibt.

Wuttke: Anna Ditges über Hilde Domin und ihren Dokumentarfilm „Ich will dich“.