"Sie hat die Seele der Melodie gesungen"

Moderation: Nana Brink |
Für Musikkritiker Jürgen Kesting war Maria Callas eine "wirkungsmächtige Sängerin", die dem Singen eine neue Richtung gegeben hat. Ihre große Leistung habe darin bestanden, das romantische Repertoire wieder ins Bewusstsein zu rufen, sagte Kesting. Neben einer hohen Musikalität habe die vor 30 Jahren verstorbene Sängerin über eine überragende Technik verfügt.
Nana Brink: Maria Callas gehört zu den wirkungsmächtigsten Sängern des vergangenen Jahrhunderts, zusammen mit Enrico Caruso und Fjodor Schaljapin, das sagt der Musikkritiker Jürgen Kesting, den ich jetzt begrüße, schönen guten Morgen.

Jürgen Kesting: Guten Morgen.

Brink: Sie haben eine Callas-Biographie verfasst, sind erklärter Fan der griechischen Diva. Berührt Sie denn Ihr Todestag, der am Sonntag sich jährt?

Kesting: Ich muss zunächst sagen, dass ich niemandes Fan bin, weil Fanverhalten ein Objektfall auf narzistischer Basis ist. Ich bin ein Bewunderer der Sängerin, aber Fan lehne ich ab. Und der Todestag ist ein Todestag. Man denkt daran, aber es ist nicht so, dass man wie bei einem geliebten Menschen trauert. Man denkt an einen bedeutenden Sänger zurück.

Brink: Ist die Callas bis heute die größte Sängerin der Welt, wie der nicht minder berühmte Pianist Leonard Bernstein gesagt hat?

Kesting: Der Dirigent Leonard Bernstein, der sie in Mailand mehrfach dirigiert hat, in Medea und in "La Sonnambula". Er hat in einem Gespräch, das ich mit ihm geführt habe, gesagt, das war die größte Sängerin der Welt, und hat dann ganz spontan ein paar Staccato-Koloraturen vorgesungen, die er für sie in einer Aufführung von "La Sollambula" hineinkomponiert hatte. Das mit der größten Sängerin der Welt ist genauso absurd wie das mit dem größten Dirigenten der Welt. Sie war eine wirkungsmächtige Sängerin, sie hat dem Singen eine neue Richtung gegeben, so wie es zuvor Caruso geschafft hat und Schaljapin geschafft hat. Caruso hat den Belcanto vollendet, den romantischen Belcanto, Schaljapin war der erste moderne Sängerdarsteller, und Callas hat das romantische Repertoire, was zwischen 1920 und 1950, 55, fast von den Bühnen verschwunden war, ins Bewusstsein und ins Repertoire zurückgeholt. Darin lag ihre große Leistung.

Brink: Was hatte sie denn, was heutige Sängerinnen nicht haben?

Kesting: Ich glaube, als sie nach Italien kam, 1947, gab es keinen Takt in der italienischen Vokalmusik, überhaupt in der Vokalmusik, der Opernmusik, den sie nicht singen konnte. Sie war technisch also allen Sängerinnen ihrer Zeit weit, weit überlegen – nicht, was die Schönheit der Stimme angeht. Da gab es Sängerinnen, die durchaus ebenbürtig waren. Das Zweite: Die Wirkung, die langanhaltende Wirkung, kann sich nur daraus erklären, dass diejenigen, die Callas hören, das Gefühl haben, was sie singt, meint sie, das ist wahrhaftig. Wagner hat einmal von seiner großen Muse Schröder-Devrient gesagt, das Entscheidende war Wahrhaftigkeit, und Callas hat eine Gleichzeitigkeit zwischen den Frauenschicksalen, von denen sie gesungen hat, und den Empfindungen unserer Zeit hergestellt. Die Ingeborg Bachmann hat über sie gesagt, sie ließ durchhören durch Jahrhunderte. Das ist ein ganz entscheidender Faktor. Sie war keine Opernangestellte, sondern eine große Interpretin.

Brink: Wir wollen dem vielleicht ein bisschen nachspüren, auch wenn vielleicht Musikkritiker wie Sie es als etwas schmerzhaft empfinden, wir haben ein Stück aus der Arie Vissi d’arte von Puccinis "Tosca", und das wollen wir doch ein bisschen jetzt mal durchhören.



Brink: Eine ihrer berühmtesten Aufnahmen aus Puccinis "Tosca". Was war denn wirklich das Besondere an ihr? Sie haben ja schon gesagt, dass der Gesang vielleicht nicht das war. War sie dann schlicht der erste wirklich professionell und international vermarktete Klassik-Star, der es schaffte, die Massen zu begeistern?

Kesting: Oh nein, oh nein. Jenny Lend im 19. Jahrhundert ist vom Zirkusunternehmer Barnum Bailey nach Amerika geholt worden. Caruso ist vermarktet worden, Jellici ist vermarktet worden, Tauber ist vermarktet worden. Nein, nein, also, Marketing hat gar keine so große Rolle gespielt. Sie wurde zwar eingesetzt von ihrer Firma als Gallionsfigur, aber Sie konnten am Ende der Tosca-Arie hören, dass sie das Anatmen und das Abatmen nach einer Phrase zu einem Ausdrucksmittel machte. Das packt unmittelbar. Es ist einfach die Intensität des Ausdrucks, die bei ihr so groß ist. Sie war, das kommt hinzu natürlich, eine ungeheuer professionelle Sängerin, die in der Lage war – auch weil sie glänzend Klavier spielte –, die Instrumente des Orchesters und den Klang ihrer Stimme aufeinander abzustimmen. Das haben Dirigenten immer wieder bewundert. Sie hat mit einem schönen, berühmten italienischen Satz die Seele der Melodie gesungen, und das Zweite ist, sie hat deutlich gemacht, dass alle großen Melodien unbezwinglich traurig sind.

Brink: Dann steckt dahinter aber eine harte Disziplin, denn das ist ja nicht nur Talent.

Kesting: Ganz sicher nicht nur Talent. Als sie nach Griechenland kam mit ihrer Mutter, mit 15 oder 16 Jahren, hat sie mit ihrer ersten Lehrerin, Trivella, und dann mit der zweiten, Elvira de Hidalgo, jeden Tag fünf, sechs Stunden gearbeitet. Sie hat von morgens bis abends Skalen geübt. Wenn sie in eine Probe ging, dann hat sie nicht nur allein geprobt, wie es heute Stars tun, sondern sie hat abgewartet, bis der Chor damit fertig war und hat zugehört, was der Chor machte. Sie konnte eine schwierige Partie innerhalb von vier oder fünf Tagen lernen, das hat sie zwei-, dreimal demonstriert. Also, da kommen viele, viele Faktoren zusammen. Hohe Musikalität, Lernbereitschaft, professionelles Können, eine überragende Technik, die dann – weil die Stimme nachließ, das war ein physisches Nachlassen der Stimme – die Technik blieb sehr lange erhalten, aber die Stimme verlor an Spannkraft, weil sie sich sehr verausgabt hatte. Es ist eben gesagt worden, dass sie in Mexico City als Aida am Ende des zweiten Aktes ein hohes Es gesungen hatte, das hat übrigens eine Mexikanerin gemacht, die Partitur kannte sie, und der Intendant hat sie darum gebeten. Da hat sie ein Es gesungen, über das gesamte Orchester, auch die Blechbläser hinweg. Und das war wie die Kerze, die an beiden Enden angezündet wird. Sie hat sich buchstäblich in diesen Jahren von ihren Energien her verbrannt.

Brink: Hat Maria Callas die Oper revolutioniert?

Kesting: Sie hat zumindest in den ersten 20 Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg eine neue Richtung gewiesen und zwar, dass der romantische Belcanto, also Bellini, Rossini, Donizetti, wiederentdeckt wurden, sie hat damit den Anstoß zur Rossini-Renaissance gegeben. Sängerinnen wie Joan Sutherland, Montserrat Caballier, Beverly Sills, Marilyn Horne, waren alle in ihrer Schuld, weil sie das Repertoire … Sie hat die Terra Incognita, hat die Caballier gesagt, dieses Repertoires geöffnet. Sie hat Wirkung gezeitigt, so wie Wieland Wagner in der Regie hat Callas für das italienische Opernrepertorie neue Akzente gesetzt.

Brink: Mein Leben lang war ich ungeschützt, das hat Maria Callas über sich selbst gesagt, und mindestens ebenso aufregend wie ihre Stimme war ja auch ihr Privatleben. Man bewundert immer die Stimme, die Sängerin, aber eigentlich war sie eine ganz unglückliche Frau.

Kesting: Weiß man das?

Brink: Also, zumindest wenn man die Schlagzeilen liest, ihre tragische Liebe zu Onassis, der dann Jackie Kennedy geheiratet hat und nicht sie, was sie sich vielleicht gewünscht hätte, das Kind, von dem man ja spekuliert …

Kesting: Das waren sicher traurige Jahre, und die letzten Bilder zeigen auch eine sehr traurige Frau, und viele Zeugnisse, viele Briefe, viele Äußerungen zeigen, dass sie nicht sehr glücklich war. Aber ich glaube, dass das alles unter ein Vergrößerungsglas von Schlagzeilen, auch von Totschlagzeilen, gestellt worden ist. Wie es in ihr drinnen aussah, das ist nicht so leicht zu ermitteln. Dann glaube ich auch, dass hochbegabte Menschen nicht unbedingt dazu neigen, besonders glücklich zu sein, das sind oft sehr gebrochene Menschen. Und gerade bei Künstlern ist es so, da gibt es Melancholien, depressive Schübe, der eben erwähnte Leonard Bernstein war ein Mann, der auch diese Extreme, die extremen Pendelschläge der Emotionen kannte, genau wie Callas.

Brink: Muss vielleicht sein, dass so ein Genie dann wie eine Kerze an beiden Enden brennt.

Kesting: Darf ich noch eins ergänzen? Sie hatten vorher Cecilia Bartoli, die ein Album "Maria" gemacht hat. Das ist eine doppelte Anspielung. Einmal, sie singt das Repertoire von Maria Malibran. Maria Callas hatte in einem Zimmer zwei Bilder von Sängerinnen, die sie bewunderte. Das eine war de Hidalgo, ihre Lehrerin, das andere war Maria Malibran, die größte Primadonna der Romantik. Was Bartoli macht, ist auch sozusagen, ich übernehme ein Repertoire, das die Callas gesungen hat. Sie selber hat – Bartoli – immer gesagt, ich kann mit Callas nicht verglichen werden, es ist eine völlig andere Stimme, eine völlig andere Sängerin. Aber diese doppelte Anspielung, auch eine Frage des Marketings, ist auf jeden Fall dabei.

Brink: Die Diven werden uns noch beschäftigen. Vielen Dank, Jürgen Kesting, und am Sonntag vor 30 Jahren ist die Primadonna assoluta Maria Callas gestorben.