Sie beklagen das, was ihnen fehlt

Von Volker Trauth · 28.05.2013
Bis zum 1. Juni sind im Haus der Berliner Festspiele acht ausgewählte Inszenierungen aus der gesamten Republik zu sehen - darunter ein Stück vom Jugendprojekttheater aus Berlin Hellersdorf und dem "Theater Mobil" des Schauspielhauses Düsseldorf. Themen sind vor allem familiäre Gewalt und Verdrängung durch den Braunkohleabbau.
"Mein Name ist Lola. Das bin ich. Nicht mehr und nicht weniger. Ich will nicht immer mittendrin sein. Ich bin 1,69 groß. Ich wiege 62,2. Ich habe mich verliebt. Ich bin 15 Jahre alt. Das bin ich."

Die 15-jährige Nathalie-Michelle Bremer vom Jugendtheaterprojekt aus Hellersdorf gibt Auskunft über ihre Hoffnungen und Ängste. Später wird sie vom Fremdgehen und Verlassenwerden, von Verrat und Neid erzählen. Der 15-jährige Stefan gesteht, eine Messerstecherei angezettelt zu haben und der gleichaltrige Rene´, dass er immer mal wieder die Schule schwänzt. In einer Spielszene werden verschiedene Varianten einer Geschichte durchgespielt, in deren Verlauf ein junges Mädchen ins Heim übersiedeln muss, weil ihre Mutter zur Alkoholentziehungskur eingewiesen worden ist.

Die professionellen Theaterleute Cindy Eichmann und Dagmar Domrös haben mit viel Geduld mit den Kindern und Jugendlichen gearbeitet, um sie in die Lage zu versetzen, auf der Bühne Auskunft über ihr Leben in einem sogenannten "Problembezirk" geben zu können. Auf ähnliche Weise ist die Inszenierung "Almost lovers" vom jungen Schauspielhaus Düsseldorf entstanden. Ein 18-Jähriger erzählt darin von seiner Hassliebe zu seinem Vater.

"Vater, ist meine Aufgabe zu spülen, in allen sieben Zimmern? Erst einmal alles hoch und darunter wischen? / Wasch das Geschirr! / Wieso kann das meine Schwester nicht machen? Es ist ihre Aufgabe, das Geschirr zu spülen. / Sohn, ich habe gar kein Problem damit, Dich umzubringen. Ich habe im Krieg Menschen getötet. Denke nicht, wenn Du das Geschirr nicht abwäschst, kann ich Dich nicht umbringen."

Zwölf Jugendliche mit und ohne Migrationshintergrund, die von den Initiatoren vom "Theater Mobil" des Schauspielhauses Düsseldorf fürs Theaterspiel gewonnen worden sind, bringen tanzend und singend, nachdenklich und emotionsgeladen ihre Zukunftshoffnungen und Albträume zur Sprache. Sie beklagen das, was ihnen fehlt: ein intaktes Zuhause, Zukunfts- und Bewährungschancen. Wir erleben bis zur Schmerzgrenze brutal ausgespielte Szenen im Stadion, im Boxring, im Jugendgefängnis und in der Disco.

Ein im Amateurtheater selten gesehener Zug von Selbstironie fällt auf, wenn ein Darsteller in der Disco den großen Frauenhelden ausstellen will und vom Türsteher vertrieben wird oder wenn ein anderer mit Sonnenbrille und Zigarre den Aufsteiger markieren will und der Zuschauer merkt, dass er sich selber nicht glauben kann. Neben solchem vom Biographischen ausgehenden jugendlichen Theaterspiel hat der Juryvorsitzende Martin Frank eine andere Richtung entdeckt.

"Es gibt andere Jugendclubs, die sind hochpolitisch. Aus Grevenbroich kommt eine Gruppe, die wollte eigentlich nur Theater machen, beschäftigt sich mit Puppenspiel mit Objekttheater. Plötzlich stehen die davor, dass ihre ganze Region, ihre ganzen Dörfer vom Tagebau abgeräumt werden soll. Und die machen höchst kunstfertiges, verspieltes, humorvolles Theater zum Vernichten von Geschichte und zum Schluss weint man."

Die Jungen und Mädchen aus Grevenbroich interessieren vor allem die Menschen, die ihre Heimat verlassen mussten. Am Ende, anschließend an eine Kamerafahrt durch das verlassene Dorf, kommen sie selbst zu Wort und erzählen in einem kleinen Film - stockend und mit sichtlicher Überwindung - vom schweren Neuanfang im fremden Ort. Vorher haben die Spieler in Form eines Märchens den Medienrummel um das immer größer werdende Tagebauloch und das unwürdige Feilschen um die Abfindung der Opfer kritisch ins Visier genommen. In einer Szene streiten sich die Tiere - Pferd, Kuh, Ziege und Ente - wie sie sich in Zukunft verhalten sollen: den Menschen folgen oder eine eigene Kommune gründen und die Absperrtrupps verjagen.

"Na und, besser das als als Kotelett zu enden. Und auf keinen Fall als Frikassier. / Und wer versteckt uns da? Und wenn das Loch kommt? / Dann ziehen wir eben weiter. Ansonsten ist doch eh alles – Wurscht! / Und wenn sie uns wieder einfangen wollen? / Dann gibt es mit meinem Hufen so etwas von auf die Fresse."

Das performative Element - das nicht selten angestrengte Zusammenspiel verschiedener theatralischer Mittel - wird zum Charakteristikum dieses Jahrgangs. In "99%", einer Aufführung des Ensembles aus Solingen - attackieren die Spieler - solistisch oder im Chor, in Sololiedern oder in aufwendigen Bewegungschoreografien - nationale und internationale Defizite und Fehlentwicklungen.

Das Problem: es fehlen die ganz einfachen Geschichten zwischen den Menschen sowie dramatische Figuren mit individuellen Zügen. Unter dem Dauerfeuer von formalen Einfällen bleibt der Spieler ein gesichtsloses Rädchen. Vielleicht liegt es daran, dass mir in diesem Jahr noch keine herausragenden schauspielerischen Leistungen aufgefallen sind, die - wie die inzwischen im Berufstheater bekannt gewordene Sandra Hüller - eine große Zukunft versprachen.
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