Jüdisch-humanistisches Gebetsbuch

Beten ohne Gott

05:53 Minuten
Newport Beach, Kalifornien am 28. November 2021: Bunte Chanukka-Kerzen werden während der Chanukka-Feier des Chabad Center for Jewish Life in Newport Beach verteilt.
Im Judentum spielen Traditionen wie die Chanukka-Feier eine große Rolle, auch für Juden und Jüdinnen, die nicht an Gott glauben. © Getty Images / MediaNews Group / Mindy Schauer
Von Juna Grossmann · 23.01.2022
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Im Judentum spielen Traditionen eine große Rolle, auch für Juden und Jüdinnen, die nicht an Gott glauben. Im Frühjahr 2021 erschien in den USA ein jüdisch-humanistisches Siddur – also ein Gebetbuch, das ganz ohne Gott auskommt.
„The New Jewish Humanist Siddur“ von William D. Thompson ist ein jüdisch-humanistisches Gebetbuch für die Wochentage, Schabbat und Feiertage, das eine Alternative zu herkömmlichen Siddurim sein will.
Ein Gebetbuch, das ohne den Gottesbegriff auskommt und so auch jene anzusprechen versucht, die nicht an eine Gottesfigur glauben und dennoch in den Traditionen verankert sein wollen.

Sehnsucht nach einer festen Liturgie

Der Autor William D. Thompson ist Teil der jüdisch-humanistischen Bewegung. Auch unter deren Anhängern scheint die Sehnsucht nach einer festen Liturgie groß zu sein, obwohl es in Humanistischen Gemeinden den Anspruch gibt, für jeden Anlass und Ort individuelle Liturgien zu entwickeln und nicht einfach die traditionellen zu übernehmen. Thompson aber wollte an der Idee eines Gebetsbuchs festhalten:
"Das, was ich vom Reformjudentum zum humanistischen Judentum mitbringen wollte, war diese Art von Liturgie, diese Verbindung zur Liturgie. Auch wenn man die Worte ändert, habe ich das Gefühl, dass man immer noch diese Verbindung haben kann. Und ich denke, es ist wichtig, diese Verbindung zu haben. Das war das erste, was mir auffiel, als ich der Society of Humanistic Judaism beitrat. Ich habe gefragt, ob es einen humanistischen Siddur gibt. ‚Nein.‘ Ob jemand einen erstellt? ‚Nein, wir sind nicht daran interessiert, so etwas lohnt sich nicht.‘“
Also begab sich Thompson auf die Suche nach einem Gebetbuch im humanistischen Sinne.
„Ich fand ein Buch von Marcia Falk, das fast das war, was ich wollte. Aber sie ist immer noch mehr auf der Seite Gottes, und ich wollte etwas, was viel strikter atheistisch ist – oder nicht-theistisch. Daraus entstand das Bedürfnis, es zu schreiben. Zunächst sollte es ein persönliches Projekt sein nur für mich. Ich dachte nicht, dass irgendjemand das wollen würde."

Expertin: Gefahr von spirituellem Missbrauch

Doch in jüdisch-humanistischen Facebook-Gruppen wurde weiterhin die Frage nach einem humanistischen Siddur gestellt. Thompson, von Beruf Anwaltsgehilfe, entschied sich, seine Arbeit publik zu machen und stellte sie zum Verkauf. Mehrere Hundert Exemplare hat er zu seiner Überraschung in den USA, Europa und Australien verkauft. Dieser Erfolg zeigt den Bedarf nach einer liturgischen Ordnung auch in dieser Ausrichtung des Judentums.
Annette Böckler, Judaistin und wissenschaftliche Mitarbeiterin des Fachbereichs Judaistik an der Universität Mainz, gibt zu Thompsons Initiative allerdings zu bedenken:
„Die Gefahr ist riesig, je spiritueller eine Gruppe ist, und das ist die Gefahr von spirituellem Missbrauch. Da muss ich unterstreichen: Ein Siddur wird in der Regel von einem Komitee herausgegeben. Es ist nicht eine Person, die sagt: ‚Das ist der Siddur unserer Gemeinde.‘ Das kann nicht funktionieren. Ich verstehe das hier als ‚das sind so meine Ideen und ich werfe sie in den Markt und macht mal was damit‘.“
Thompson stellt in seinem Buch die Frage, warum es Gebete auch im humanistischen Judentum geben soll. Die Rabbinen haben im ersten Jahrhundert unserer Zeitrechnung, nach der Zerstörung des Tempels, das Gebet als Ersatz für den Tempeldienst eingesetzt. Eine radikale Änderung.

Gebete neu interpretieren

Thompsons Veränderungen des heutigen Gebets sind nur marginal und fördern sogar die weitere Auseinandersetzung mit der Tradition. Denn die Bedeutung der Worte könne manchmal im stetig wiederholten traditionellen Gebet auf Hebräisch, für viele eine Fremdsprache, verlorengehen. Das stehe dem eigentlichen Sinn des Gebets entgegen, sagt Thompson.
So lautet der traditionelle Segen beim Anlegen des Gebetsschals Tallit:
„Gepriesen seist Du, Ewiger, unser Gott; Du regierst die Welt. Du hast uns durch Deine Gebote geheiligt und hast uns aufgetragen, uns in ein mit Gebetsfäden gewebtes Kleidungsstück zu hüllen.“
Thompson formuliert hier: „Mit diesem Tallit hülle ich mich in Meditation und Selbstreflexion. Mit diesen Gebetsfäden erinnere ich mich an meine ethischen Verpflichtungen gegenüber allen Menschen.“

„Gott ist poetische Sprache“

Seine Ideen ergeben, so stellt Annette Böckler fest, intelligente Texte, schöne poetische Anklänge, die durchaus Raum in US-Reformgebetbüchern finden könnten und sehr an sie angelehnt sind. Sie verweist darauf, dass es dort schon Alternativen zu den alten traditionellen Gebeten gibt, die teils ebenfalls ohne den Gottesbegriff auskommen.
Der humanistische Siddur von William D. Thompson kann auch als Brücke gesehen werden zu den alten Traditionen und Liturgien – und jenen, die sonst ganz ihre Brücken zu diesen Traditionen abbrechen würden, weil sie sich selbst nicht mehr in ihnen wiederfinden. Jeder Mensch hat einen anderen Begriff von Gott, mancher in Bildern, mancher in Personen, in Ereignissen. Diese Begriffe entwickeln und verändern sich und sollten nie stehen bleiben bei dem, was wir in unserer Jugend denken und lernen mögen.
Und, so merkt die Theologin Böckler an: „Gott ist poetische Sprache, das heißt, ich muss in jeder Lebenszeit, in jeder Situation überlegen: Was meine ich, wenn ich ‚Gott‘ sage? Und das füllen.“

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