Shirin Neshat porträtiert Oum Kulthum

"Man kann den Mythos nicht entzaubern"

Die iranische Künstlerin Shirin Neshat
Sie sei geradezu besessen von starken Frauenfiguren, sagt die iranische Künstlerin Shirin Neshat. © imago/ Manfred Siebinger
Shirin Neshat im Gespräch mit Susanne Burg · 02.06.2018
In ihrem neuen Film nähert sich die Iranerin Shirin Neshat einer anderen Künstlerin aus dem Nahen Osten: der ägyptischen Sängerin Oum Kulthum. Es sei schwierig gewesen, diesen Film zu machen, so Neshat - auch weil sie selbst so zierlich sei.
Susanne Burg: Die ägyptische Sängerin Oum Kulthum ist in der arabischen Welt fast eine mythische Erscheinung, eine große panarabische Integrations- und Identifikationsfigur. 80 Millionen Tonträger sind von ihrer Musik verkauft worden. Ihrer Beerdigung 1975 wohnten in Kairos Straßen vier Millionen Menschen bei.
Diesem Mythos nähert sich nun eine andere Künstlerin aus dem Nahen Osten an: die iranische Fotografin und Filmemacherin Shirin Neshat. Bekannt geworden Mitte der 90er Jahre durch "Women of Allah". Einer Fotoserie mit bewaffneten islamischen Frauen im Tschador. Später – da lebte Shirin Neshat schon dauerhaft in den USA – widmete sie sich auch der Video- und Filmkunst. Nun kommt also ein neuer Spielfilm von ihr in die Kinos: "Auf der Suche nach Oum Kulthum.
Als Iranerin einen Film über eine ägyptische Musikerin zu machen, die im Land selbst als Nationalheilige verehrt wird, war auch mit einigen Schwierigkeiten verbunden. Auch darüber habe ich mit Shirin Neshat gesprochen. Aber erst mal wollte ich von der mittlerweile 60-Jährigen wissen, wann sie eigentlich das erste Mal von Oum Kulthum gehört hat.
Shirin Neshat: Als ich aufwuchs, war sie schon im Iran bekannt. Meine Eltern haben ihre Musik gehört. Aber als Jugendliche habe ich klassische Musik abgelehnt, sodass ich mich nicht weiter um sie gekümmert habe. Vor ungefähr zehn Jahren habe ich dann angefangen, mich für ihre Musik und ihre Person zu interessieren, weil ich besessen war von bekannten Frauenfiguren. Und Musik wurde für mich wichtiger in meiner Arbeit. Ich dachte, es wäre doch auch spannend, sie einem westlichen Publikum nahe zu bringen, das Oum Kulthum nicht kennt. Aber mich als Künstlerin aus dem Nahen Osten haben natürlich auch die Themen einer anderen Künstlerin aus der Region interessiert.

"Sie war ein Symbol für Einheit und Frieden"

Susanne Burg: In Deutschland war sie ja überhaupt nicht bekannt. Um das zu ändern, hat der israelische Künstler Ariel Ashbel, der in Berlin wohnt, ein Konzert organisiert – mit Musikern aus Deutschland, Israel, Russland, Syrien, der Türkei und den USA. Er wurde dafür vor allem in den sozialen Medien harsch kritisiert. Es hieß, ein Israeli dürfe nicht die Lieder einer ägyptischen Ikone interpretieren. Klingt das vertraut für Sie?
Shirin Neshat: Es ist interessant. Bei meinen Recherchen fand ich heraus, dass Oum Kulthum auch ein Konzert in Israel gegeben hat und dass viele Israelis aus ihrer Generation mit ihrer Musik aufgewachsen sind. Aber als ich bei einem Screening des Films erwähnte, dass Juden ihre Musik genauso mochten wie Muslime, wurde ich hinterher verbal angegriffen. Diese Formulierung sei beleidigend gewesen. Ich antwortete: "Aber es war so. Die Geschichte belegt das." Es ist ironisch, dass ihr, die immer ein Symbol für die Einheit war, für den Frieden, die uns unsere Unterschiede hat vergessen lassen, dass ihr Leute jetzt deren eigene politische Absichten überstülpen. Solche, die dem völlig zuwider laufen, wofür Oum Kulthum stand.
Susanne Burg: Überrascht Sie das? Es ist ja auch der Begriff der kulturellen Aneignung in letzter Zeit immer wichtiger geworden. Ist sie in der Hinsicht zu einer politischen Figur geworden?
Shirin Neshat: Ich glaube, die Wahrheit ist: Oum Kulthum war eine seltene Künstlerin, die über die ägyptischen Landesgrenzen hinausgestrahlt hat. In der Hinsicht ist sie wirklich einzigartig in der Region. Und ich glaube, man kann den Mythos nicht entzaubern. Sie steht darüber. Alles, was jetzt passiert, spiegelt nur den ideologischen Dogmatismus von anderen wider, die sie auf ein Level herunterziehen wollen, auf das sie nicht gehört.

Susanne Burg: Sie haben viel Recherche für den Film betrieben. Sie haben keine Filmbiografie gemacht, sondern entschieden, den Film aus der Perspektive einer Regisseurin zu erzählen, die einen Film über Oum Kulthum machen möchte. Was hat Sie zu der Entscheidung gebracht?
Shirin Neshat: Eigentlich wollten wir eine Filmbiografie machen. Nach zwei Jahren und zahlreichen Drehbüchern kamen wir zu dem Entschluss, dass das nicht geht. Zum einen bin ich keine Ägypterin und zum anderen sind Filmbiografien häufig nicht wirklich interessant. Von verschiedenen Seiten kam der Rat, es doch persönlicher anzulegen und von meiner Besessenheit mit Oum Kulthum zu erzählen und warum ich den Film machen will und den Hürden, die es dabei gab. Auch von den Hürden, als kleine, schmale Frau aus dem Nahen Osten einen Film zu machen. Ich habe dann ein Jahr am Drehbuch gearbeitet.
Susanne Burg: Sie zeigen im Film, welche Kämpfe Ihre Protagonistin, die Regisseurin, austragen muss: Kämpfe mit sich selbst, eine Haltung zu Oum Kulthum zu entwickeln, aber auch Kämpfe mit den Produzenten, die Oum Kulthum mehr als Künstlerin und weniger als Mensch zeigen wollen. Und sie kämpft auch mit einem der Schauspieler, der sie nicht ernst nimmt und den sie schließlich als Chauvinistenschwein bezeichnet. Inwieweit passt vor allem letzteres in die Diskussion um #MeToo und Geschlechterverhältnisse im Film?
Shirin Neshat: Diese Figur des Mannes war auf drei Ebenen interessant: Er war sowohl ein Fan als auch ein großer Kritiker von Oum Kulthum. In der Geschichte von Mitra, der Regisseurin, ist er ihr Gegenspieler, der sie ständig vorführt vor den anderen. Aber auch der Schauspieler selbst war sehr schwierig im Umgang. Er hat nie meine Regieanweisungen befolgt. Er wurde also zum Problem auf allen drei Ebenen. Ich dachte, das ist doch irgendwie eine Ironie, dass es da plötzlich drei Parallelen gab. Die Produzenten im Film wollten ja auch ein anderes Ende. Und meine realen Produzenten wollten plötzlich auch das Ende ändern. Es gab diese Muster, so dass die Realität dem Film so nahe kam. Ich glaube, als Frau in einer Machtposition komme ich immer wieder in die Situation zu denken, ich muss wie ein Mann agieren und kämpfen. Ich glaube, Männern fällt das leichter.

"Ich muss gut aufpassen auf meinen fragilen Körper"

Susanne Burg: Sie nannten sich gerade auch eine kleine schmale Frau. Welche Rolle spielt Ihrer Meinung nach auch die körperliche Erscheinung am Set?
Shirin Neshat: Filmemachen ist harte körperliche Arbeit. Da braucht man gute Kondition. Wir haben in Marokko gedreht. Viele sind da krank geworden. Ich arbeite größtenteils mit Männern zusammen. Ich muss meine Kräfte einschätzen und gut aufpassen auf meinen fragilen Körper. In der Hinsicht gibt noch eine weitere Parallele zu Oum Kulthum. Sie war ebenfalls von Männern umgeben, sie hatte das Sagen. Und trotzdem trat sie sehr maskulin auf, damit sie ernst genommen wurde. Ich habe auch das Gefühl, dass ich mich häufig sehr stark geben muss. Das ist anstrengend.
Susanne Burg: Eine andere Herausforderung, mit der die Regisseurin im Film umgehen muss, ist der Umstand, dass sie als Iranerin einen Film über ein ägyptisches Idol machen muss. Wir haben eingangs über die Streitigkeiten um Oum Kulthums Deutungshoheit gesprochen. Welche Erfahrungen haben Sie in der Hinsicht mit dem Film gemacht?
Shirin Neshat: Schon bei unserer ersten Reise nach Ägypten gab es sehr unterschiedliche Reaktionen. Einige Leute meinten, das sei die einzige Art und Weise, einen Film über Oum Kulthum zu drehen – mit der Perspektive von außen, weil sie in Ägypten viel zu unantastbar ist. Andere Leute haben das Projekt mehr hinterfragt und kritisiert. Und jetzt, da der Film raus ist, beobachte ich auch, dass das arabische Publikum sehr geteilt ist. Obwohl der Film Fiktion ist und kein Biopic, finden viele zum Beispiel die Szene beleidigend, in der Oum Kulthum ihre Stimme verliert. Andere sehen das anders und freuen sich, dass wir auch der Musik und den Kostümen so viel Aufmerksamkeit geschenkt haben. Es ist also eine gemischte Reaktion.

Verbindungen zwischen Neshats Fotografien und Filmen

Susanne Burg: Wir sollten auch über das Visuelle sprechen. Sie haben mit dem österreichischen Kameramann Martin Gschlacht gearbeitet, wie schon in Ihrem letzten Film. Die einzelnen Bilder sind sehr präzise komponiert. Sie transportieren auch die Magie des Kinos, sind zugleich voller Symbolismus und Realismus. Wie sehr ist es für Sie ein narrativer Film und wie sehr auch Videokunst?
Shirin Neshat: Das ist eine interessante Frage. Der Film geht ja in verschiedene Bereiche, in die Träume und die Fantasie, er zeigt die Produktion eines Filmes und ist auch ein Kostüm- und Historienfilm. Wir wollten die einzelnen Bereiche visuell unterschiedlich gestalten, aber auch Übergänge schaffen. Das war interessant. Und ich habe auch an alte Arbeiten von mir angeknüpft, z.B.: Turbulent, ein Musikvideo, bei dem manchmal das Publikum verschwindet. Wir haben alte Arbeitsweisen und auch einzelne Fotografien von mir benutzt. Aber was mir an Martin so gut gefallen hat, sind die Übergänge, die er geschaffen hat, zum Beispiel durch die Lichtsetzung. Das waren Entscheidungen und Martin war da unersetzlich.
Susanne Burg: Sie haben ja in ihrer Karriere auch viel mit Fotografie gearbeitet. Wie ist Ihr Verhältnis zum einzelnen Bild und zum Bewegtbild?
Shirin Neshat: Ich habe früher meine Foto- und Videoarbeiten immer vom Filmemachen getrennt betrachtet. Und zum ersten Mal stelle ich fest, dass sie nicht so verschieden sind. Denn wenn ich mir einzelne Frames ansehe, sehen sie aus wie eine Fotografie. Und die träumerischen Sequenzen im Film kommen aus meiner Videokunst. Sie sind sehr stilisiert und abstrakt, Konzeptkunst. Die Filmsprache habe ich mir erst später angeeignet. Ich glaube inzwischen, dass ich immer die gleiche Handschrift habe, aber in leicht unterschiedlichen Sprachen arbeite. Und jetzt kommt alles im Film zusammen.
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