Sherlock in altmeisterlicher Genauigkeit

Luc Brunschwig und Cécil erzählen ihre eigene Sherlock Holmes-Geschichte. Darin ist der Meisterdetektiv nicht im Kampf mit Professor Moriarty gestorben. Watson und Holmes-Schüler Wiggins machen sich auf die Suche nach der Wahrheit.
Große Texte von Franz Kafka und von Marcel Proust gibt es inzwischen als Graphic Novels, die Umwandlung berühmter Werke der Weltliteratur in Comicerzählungen ist in den letzten Jahren in Mode gekommen. Man könnte auch beim ersten Sherlock-Holmes-Band des französischen Autors Luc Brunschwig und des Zeichners Cécil auf eine Nacherzählung tippen, aber damit läge man falsch: Die beiden wollen ihre ganz eigene Geschichte von Arthur Conan Doyles Meisterdetektiv erzählen.

Den Ausgangspunkt haben sie noch vom klassischen Sherlock Holmes übernommen: Der Detektiv ist tot. Beim Kampf mit dem Erzschurken Professor James Moriarty ist Holmes in die Schweizer Reichenbachfälle gestürzt. Arthur Conan Doyle selbst hat acht Jahre nach dem Tod seines Helden eine Auferstehung zelebriert und Holmes zurückkehren lassen. Luc Brunschwig und Cécil setzen früher an. Bei ihnen wird gleich nach dem vermeintlichen Tod des Detektivs in den Wasserfällen eine breit verästelte Mystifikation um das Ende von Holmes aufgebaut.

Kampf auf Leben und Tod
Den ersten Stich setzt Mycroft Holmes, der Bruder von Sherlock. Er behauptet, es habe den großen Verbrecher Professor Moriarty nie gegeben, er sei nur eine Ausgeburt von Sherlock Holmes‘ kokainvernebeltem Hirn gewesen. Holmes sei nicht im Kampf mit Moriarty gestorben, er habe Selbstmord begangen. Dr. Watson und der Holmes-Schüler Wiggins versuchen diese Ungeheuerlichkeit aufzuklären und finden einen Professor Moriarty, der leider tatsächlich nichts von einem Super-Verbrecher hat.

Dafür aber liefert dieser Moriarty eine Spur, die in Sherlock Holmes Vergangenheit führt und zu einem Kampf auf Leben und Tod, den er vor langer Zeit mit diesem Moriarty geführt hat. Ebenso rätselhaft wie der Professor ist eine Begegnung mit dem greisem Vater von Sherlock Holmes, der von einer äußerst resoluten, holzbeinbewehrten Haushälterin mehr bewacht als betreut wird. Und schließlich wird ein weiterer Fixpunkt in Sherlock Holmes Welt ausgehebelt, seine bekannte Aversion gegen Frauen: Brunschwig und Cécil dichten Holmes eine glühende und folgenreiche Jugendliebe an.

Sir Arthur Conan Doyle wurde durch seine Detektivromane mit Sherlock Holmes und Dr. Watson berühmt.
Sir Arthur Conan Doyle wurde durch seine Detektivromane mit Sherlock Holmes und Dr. Watson berühmt.© AP
Präzise Zeichnungen als Echo auf Holmes‘ Arbeit
Der Zeichner Cécil hat diese Suche nach den Geheimnissen von Sherlock Holmes in Bilder von höchst intensivem Ausdruck gebracht. Sie sind monochrom, mit feinsten Strichen gezeichnet, äußerst detailreich, mit scharfen Gegensätzen von Licht und Schatten. Graublaue Töne herrschen vor, ein Kapitel, das in die Familiengeschichte von Sherlock Holmes zurückführt, ist in historisierenden Sepia-Tönen gehalten. Die altmeisterliche Genauigkeit der Zeichnungen wirkt wie ein Echo der unerbittlich präzisen Schlussfolgerungen des womöglich toten Meisterermittlers.

Auf den ersten Band dieser Sherlock-Holmes-Geschichte soll im Herbst der zweite folgen. Der erste Band baut mit großem Effekt Spannungen auf, ein dichtes Gewebe von Andeutungen und Motiven, das zur Auflösung drängt. Cécil und Brunschwig gelingt dabei das Kunststück, den Detektiv, der Rätsel lösen soll, selbst zum zentralen Rätsel zu machen.

Besprochen von Frank Meyer

Luc Brunschwig / Cécil: „Holmes (1854/1891?)“, Erster Band: Abschied von der Baker Street
Verlag Jacoby und Stuart, Berlin 2013
88 Seiten, 19,95 Euro


Mehr zu Sherlock Holmes auf dradio.de:

„Sherlock Holmes – Spiel im Schatten“ Auch im zweiten Teil der Neuverfilmung setzt Regisseur Guy Ritchie auf überbordendes Action-Kino
„Sherlock Holmes“ Hans-Ulrich Pönack sah den berühmten Detektiv in einer Popcorn-Kino-Variante
Die Wissenschaft bei Sherlock Holmes Die Anfänge der Gerichtsmedizin