Sexueller Missbrauch in der katholischen Kirche

"Betroffene müssen ungeschönt reden können"

Ein Frau bindet Kinderschuhe an den Zaun einer Kirche
Den Betroffenen eine Stimme geben: In Warschau bindet eine Frau als Protest gegen sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirche Kinderschuhe an einen Kirchenzaun. © imago/Maciej Luczniewski
Barbara Haslbeck im Gespräch mit Kirsten Dietrich · 23.09.2018
Fast 4000 Opfer zählt eine Studie im Auftrag der deutschen Bischöfe über sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirche. Zum Thema Missbrauch nehmen vor allem Geistliche Stellung. Aber was erwarten Betroffene von der Kirche?
Kirsten Dietrich: Vor achteinhalb Jahren, im Januar 2010, schrieb der damalige Rektor des Berliner Canisius-Kollegs einen Brief an alle Schüler: An der Schule, einer von Jesuiten getragenen Eliteschule, sei es zu wiederholten und systematischen Fällen sexuellen Missbrauchs gekommen – von Geistlichen an Schülern. Seitdem erschüttert die Missbrauchsdebatte die katholische Kirche in Deutschland.
Gerade ist sie wieder besonders aktuell, denn vor anderthalb Wochen sind erste Daten einer Untersuchung über alle deutschen Bistümer und Orden von der Nachkriegszeit bis heute bekannt geworden. 3.677 Opfern verzeichnet die Studie und 1.607 Täter, Mitarbeiter der Kirche.
Die Bischofskonferenz will die Studie eigentlich erst am Dienstag vorstellen, dann treffen sich die Bischöfe nämlich zu ihrer jährlichen Herbstvollversammlung. Doch die Zahlen sind schon jetzt in der Welt, werden teils heftig diskutiert. Darüber spreche ich mit der Theologin Barbara Haslbeck. Sie schult in der Fort- und Weiterbildung Freising katholische Seelsorger zum Thema Missbrauch. Wie nehmen die Betroffenen die neue Debatte wahr? Wühlt sie alte Wunden auf, oder ist sie hilfreich?

Die Sorgen der Betroffenen, dass sich "eh nichts ändert"

Barbara Haslbeck: Zuallererst gilt: Je mehr aufgedeckt und aufgeklärt wird, je mehr neues Wissen es zu diesem Bereich gibt, desto besser ist es für Betroffene. Das ist das Grundsätzliche. Natürlich besteht für Betroffene immer die Gefahr, wenn das Thema in den Medien stark präsent ist, dass das Thema sie triggert, also eigene Erfahrungen mit Missbrauch dadurch aktualisiert werden. Mir hat eine Betroffene gesagt, in der letzten Zeit schalte sie das Radio oder den Fernseher schnell aus, weil sie irgendwie die Hoffnung verloren habe, dass sich durch diese Auseinandersetzung mit dem Thema tatsächlich etwas ändert.
Für Betroffene ist es oft so, dass sie erleben, wenn sie selbst den Missbrauch aufgedeckt haben, es hat sich nicht wirklich etwas für sie zum Positiven verändert, und deswegen ist oft dann die Angst da, wenn das in den Medien so stark vorkommt: Es verändert ja eh nichts. Ich selbst beobachte immer sehr genau, ob über Betroffene gesprochen wird und dann auch, wie über Betroffene gesprochen wird – also, ob Betroffene nur als schwach und ohnmächtig angenommen werden und ob sie irgendwie besonders kaputt sein müssen, um als Opfer überhaupt anerkannt zu werden.
Das ist die eine Seite. Oder Betroffene werden als störend, als besonders wütend, als aggressiv angenommen. Ich glaube, beides gibt es, aber beides trifft nicht die ganze Realität.

Niemand ist ausschließlich Opfer

Dietrich: Dann wollen wir doch mal im Gespräch versuchen, ein bisschen diese Betroffenenperspektive aufzufächern und genauer zu verstehen. Es ist ja sowieso so, dass über den Klerus und die Konsequenzen für die katholische Kirche viel geredet wurde, am Dienstag jetzt auch wieder viel geredet wird, aber diejenigen, die von Missbrauch und sexualisierter Gewalt in der Kirche betroffen sind oder Opfer wurden oder überlebt haben, die kommen nicht so oft in den Blick. Was ist denn für Sie der richtige Begriff, um diejenigen, die das erfahren haben, zu bezeichnen?
Haslbeck: Ich selbst verwende den Begriff der Betroffenen. Für Betroffene ist es besonders am Anfang der Aufdeckung oder des Wahrnehmens, dass sie sexuellen Missbrauch erlebt haben, oft wichtig zu erkennen, dass sie Opfer geworden sind, dass sie nicht das, was geschehen ist, verursacht haben, dass es einen Täter gab und dass es ein Opfer gab, dass sie tatsächlich Opfer geworden sind.
Gleichzeitig ist der Begriff des Opfers für viele negativ geworden. Es ist ja bis hin zu den Schulhöfen einfach auch ein Schimpfwort geworden. Und viele Betroffene erleben, wenn sie sich als Opfer bezeichnen, dass das dann wie so ein Etikett auf ihrer Stirn klebt, und dass sie nichts mehr anderes sind als Opfer, und das stimmt natürlich nicht. Sie haben natürlich auch viele andere Rollen im Leben und sind selbst kompetent und erfolgreich und nicht nur Opfer.
Dietrich: Wen begleiten Sie denn in Ihrer Arbeit, oder wen haben Sie begleitet?
Haslbeck: Ich habe seit vielen Jahren Kontakte vorwiegend mit Frauen aber auch mit Männern, die sexuellen Missbrauch in der Kindheit erlebt haben. Das ist meistens so, dass Menschen sich dann sehr viel später auseinandersetzen mit dem, was gewesen ist. Ich habe selten Kontakt mit Menschen, wo das ganz akut ist, sondern wo das sehr viel später Thema wird. Über das Internetprojekt "GottesSuche", das ist eine Arbeitsgruppe von Frauen mit christlichem Hintergrund, bin ich vernetzt und begleite Menschen mit Missbrauchserfahrung.

Betroffene müssen echtes Mitgefühl spüren

Dietrich: Was erwarten denn Betroffene von der Kirche?
Haslbeck: Dda könnte ich jetzt natürlich sehr viel differenziert ausführen. Ich möchte eine Basishaltung herausgreifen, die die Voraussetzung für alles ist, damit Betroffene in der Kirche überhaupt ankommen können. Es war 2002, als in der US-amerikanischen Kirche die Missbrauchskrise ausgebrochen ist. In den Medien wurde berichtet, die Bischöfe hätten sich die Schilderungen von Betroffenen angehört, und als sie das enorme Maß der Verwüstung wirklich erreicht hat, was den Betroffenen geschehen ist, hatten sie Tränen in den Augen.
Ich glaube, dass diese elementare Fähigkeit und Bereitschaft, sich einzufühlen in das, was den Betroffenen geschehen ist, dass das die Basis für alles ist. Daran entscheidet sich, ob Betroffene dann tatsächlich noch Erwartungen an die Kirche haben.
Es heißt oft "die Opfer stehen im Mittelpunkt, das ist wichtig" – aber dieser Satz bleibt hohl, wenn er dann nicht tatsächlich auch eingeholt wird. Die Voraussetzung dafür ist nach meiner Erfahrung, dass ein Mensch sich wirklich auf der Herzensebene öffnet und spürt, was da tatsächlich für eine Zerstörung geschehen ist. Und wenn diese Bereitschaft zu diesem Mitgefühl, also zu den Tränen da ist, dann geht es weiter. Klar ist, die Tränen reichen natürlich nicht, denen müssen dann Taten folgen, aber dieses Mitgefühl ist die Voraussetzung für alles.
Dietrich: Nun sollte man in der Kirche ja eigentlich sprachfähig sein zum Thema Schuld, vielleicht auch zum Thema Vergebung, aber es ist immer wieder zu hören von Initiativen, von und für Betroffene, die sagen: Das macht die Situation fast noch schwieriger. Warum das denn?

Vergebung ist kein spirituelles Endziel

Haslbeck: Das Thema Schuld ist natürlich im Kontext von sexuellem Missbrauch hoch aufgeladen, nicht nur in der Kirche. Betroffene erleben immer, dass ihnen die Schuld für das, was geschehen ist, zugeschoben wird, dass sie irgendwie da selbst verwickelt wären, und von daher ist das Sprechen von Schuld im Kontext von sexuellem Missbrauch für Betroffene immer hochschwierig. In dem Projekt "GottesSuche", in dem ich dabei bin, gibt es so einige Dauerbrenner, die wieder und wieder in der Mailingliste zum Thema werden – einer ist ganz sicher das Thema Schuld, und da dran hängt dann eng auch das Thema Vergebung.
Menschen, Frauen, die sich mit dem Thema Missbrauch, mit dem eigenen Missbrauch auseinandersetzen, haben allermeistens den Eindruck, sie müssten, wenn sie sich christlich verhalten wollen, dem Täter das, was geschehen ist, vergeben. Es ist meistens so, dass das für die Betroffenen aber nicht wirklich hilfreich ist, dass das eben eher so ein Vergeben und Vergessen ist. Ich erlebe in meinem Umfeld sehr viele Opfer, aber keinen einzigen Täter – das ist jetzt sehr zugespitzt formuliert –, da war noch nie einer, der gesagt hat, ich habe Schuld auf mich geladen, und ich bitte um Vergebung für das, was ich getan habe.
Für Betroffene ist es deshalb realistischer, ihnen nicht so als spirituelles Endziel anzubieten, dass sie vergeben sollen. Viel wichtiger für Betroffene ist es, dass sie das, was geschehen ist, sagen können. Dass sie das ungeschönt sagen können, dass sie klagen können, dass sie das auch vor Gott als Klage bringen können.
Dietrich: Ist es in der Kirche besonders schwierig, das zu äußern?
Haslbeck: Ich glaube, dass für Betroffene stark das Bedürfnis da ist, das, was geschehen ist, also sich mit diesem eigenen Opfergewordensein auszusöhnen, zu realisieren: Das ist einfach Teil meiner Lebensgeschichte. Ich glaube, es ist auf der Seite der Betroffenen ein tiefes Bedürfnis, aber ich erlebe auch, nach wie vor, dass sehr viele Seelsorgerinnen und Seelsorger es sozusagen als Endziel einer gelungenen Begleitung sehen, dass die Person vergeben möge. Es ist einfach kein Zufall, dass das einfach der ständige Dauerbrenner ist.

Vertrauensverlust und Verlust der Gemeinde

Dietrich: Ist denn das der Punkt, an dem sich Missbrauchserfahrung innerhalb einer kirchlichen Institution durch kirchliche Amtsträger unterscheidet von Missbrauchserfahrungen an anderen Orten oder in der Familie oder gibt es da noch andere Unterschiede, andere Besonderheiten dieses kirchlichen Raumes?
Haslbeck: Ich würde erst einmal die Gemeinsamkeit hervorheben, nämlich, dass, wer Missbrauch erlebt, dass eine Person im nahen Umfeld, egal, ob Eltern, ob ein Pfarrer, ob ein Lehrer, dass eine Person im nahen Umfeld Vertrauen aufbaut und sich dann aber als Wolf im Schafspelz zeigt. Für das betroffene Kind, für die betroffene jugendliche oder erwachsene Person ist das ein enormer Vertrauensbruch. Und das ist ja die Schwierigkeit, die sich dann sehr eingraben kann in die Persönlichkeit: Immer da, wo ich abhängig bin, fühle ich mich ohnmächtig und habe Schwierigkeiten zu vertrauen. Und das ist, wo die Gemeinsamkeit zwischen Missbrauch in der Familie oder in der Kirche ist.
Wer Missbrauch durch kirchliche Mitarbeiter aufdeckt, steht dann natürlich vor der Herausforderung, dass das enorme Konsequenzen hat für ein ganzes System, dass dann sich zum Beispiel eine Pfarrgemeinde spaltet. Wenn die betroffene Person Glück hat, dann glauben ihr die Eltern und unterstützen sie. Auch das ist natürlich nicht immer der Fall, weil ein Pfarrer natürlich eine Autoritätsperson ist, der erst einmal ganz viel Glaubwürdigkeit und Autorität zugeschrieben wird. Also Betroffene beschreiben das, wenn sie einen Missbrauch in der Gemeinde, in der sie sind, aufdecken, dass sie in der Regel eigentlich dort ihren Platz verlieren, weil es zu so enormen Spaltungen kommt.
Dietrich: Das heißt, diejenige, die das aufdeckt, wird dann noch weiter bestraft dafür.
Haslbeck: Ein Betroffener hat mir im letzten Jahr mal gesagt, also das, was ich nach der Aufdeckung erlebt habe, war eigentlich noch schlimmer als die Tat selbst.

Nicht alle Betroffenen lehnen die Kirche ab

Dietrich: Wenn Sie Betroffene begleiten, tun Sie das ja auch als Mitarbeiterin der Kirche, also der Institution, die die Gewalt angetan hat. Ist das schwierig?
Haslbeck: Ich erlebe, dass Betroffene das sehr klar entscheiden. Es gibt welche, die sagen, mit dieser Institution will ich nichts mehr zu tun haben, und dafür haben sie gute Gründe. Andere kommen und wollen sozusagen ganz bewusst und erst recht mit einer Person der Kirche über das, was war, sprechen.
Ich glaube, es ist ein Fehler zu meinen, dass Betroffene an Kirchenleute keine Erwartungen mehr haben oder dass sie sich nur wütend abwenden wollen. Wir brauchen Menschen in der Kirche, die qualifiziert sind, Betroffene so zu begleiten, dass sie wirklich gut begleitet sind und dass sie sich auseinandersetzen können mit dem, was war. Ich glaube, dass da noch mal ganz viel an Integration und an Verstehen ermöglicht werden kann.
Dietrich: Sie schulen ja auch Seelsorger der katholischen Kirche genau für diese Begleitung. Welche besonderen Anforderungen stellt denn der Umgang mit Missbrauch an Seelsorgende?
Haslbeck: Ich erlebe, dass insbesondere natürlich nach 2010 Seelsorgerinnen und Seelsorger sehr verunsichert sind. Manche sagen, also durch die Missbrauchskrise ist ihnen jede Spontaneität genommen worden. Ich selbst kann dieses Jammern nicht so nachvollziehen. Ich glaube, wir können und müssen uns der Herausforderung stellen, wie Seelsorgende den Menschen nahe sein können und dabei transparent und berechenbar für diese Menschen sind. Das ist eine Anfrage an die Fachlichkeit in der Pastoral, also der kirchlichen Seelsorge, und der müssen sich Verantwortliche stellen.

Seelsorgende brauchen Unterstützung

Ganz konkret ist es ja so, dass inzwischen alle auch geschult werden zum Thema Nähe und Distanz. Das halte ich für ganz wichtig. Und ich erlebe auch, dass es hochsensible Seelsorgende gibt, die für Betroffene da sein wollen, die sich sehr hilflos fühlen, die sprachlos sind, die überwältigt sind angesichts dessen, was sie auf der Seite des Opfers an Leid annehmen.
Hier sehe ich eine große Herausforderung, Seelsorgende so für die Situation von Betroffenen zu sensibilisieren, dass sie hier handlungsfähig, dass sie sprachfähig sind, dass sie ein Gegenüber sein können, dass sie einer Person, die keinen Halt mehr unter den Füßen hat, wirklich auch Halt geben können.
Dietrich: Vielleicht ist ja auch etwas, was es so schwierig macht, mit Missbrauchserfahrungen umzugehen, die Tatsache, dass man das meist als skandallösen Einzelfall wahrnimmt. Es geschehe an dieser Schule oder an jenem Ort - immer Einzelfälle, die dann aufgedeckt werden. Es ist aber nicht so sehr der Gedanke, dass solche Strukturen eigentlich ja überall vorhanden sein können und dass deswegen jeder Seelsorger oder jede Seelsorgerin damit rechnen muss, tendenziell mit Missbrauchsbetroffenen zu tun zu haben, oder?
Haslbeck: Wenn ich mit Seelsorgenden arbeite, bringe ich immer eine Zahl, um überhaupt den Horizont für das Thema zu öffnen: In einer katholischen Kirchengemeinde mit 7.000 Gläubigen, von denen zehn Prozent in die Kirche gehen am Sonntag, da ist im Gottesdienst mit 86 anwesenden Betroffenen zu rechnen.
Wenn ich diese Zahl bringe, dann erlebe ich, dass es so in den Köpfen rattert und dass dann bewusst wird: Es ist ja tatsächlich überall, in der Schule, in der Sakramentenvorbereitung, in Trauergesprächen, ganz egal wo, ich muss immer mit Betroffenen rechnen. Wenn ich das erst mal verstanden habe, dann wird das einige Konsequenzen haben. Und dann stehen Seelsorgende vor der Herausforderung, Signale zu setzen, dass sie um das Thema wissen.

Die eigene Würde zurückgewinnen

Dietrich: Welche Form von Spiritualität könnte denn Missbrauchsbetroffenen helfen?
Haslbeck: Ich will ein konkretes Beispiel bringen: Ich habe vor Jahren in der Vorbereitungsphase eines Katholikentages eingebracht, es wäre doch schön, eine Gesprächsrunde anzubieten für Frauen mit Missbrauchserfahrungen zum Thema: die eigene Würde stärken. Es gab damals sehr viele Bedenken, dass da niemand kommen könnte, weil Betroffene sich erkennbar machen würden, oder dass sie irgendwie zusammenbrechen könnten. Wir haben das damals durchgeführt, und inzwischen gehört das zum Standardprogramm und wird sehr gut angenommen.
Mein Eindruck ist, dass es für Betroffene ganz wichtig ist zu erfahren: Ich bin trotz dem, was geschehen ist, heil. Ich habe eine Würde, ich bin wertvoll. Das ist ja sozusagen das Gegenteil der Erfahrung, die ich im Missbrauch mache, nämlich dass ich benutzt werde, dass ich wertlos bin, dass ich unwürdig bin, dass ich schmutzig bin. Alles, was diese Erfahrung stärken kann, dass eine Person wertvoll ist, das ist für Betroffene hilfreich.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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