Sexueller Missbrauch in DDR-Heimen

"Panik und Angst sind immer da"

Der Schatten einer Person neben einem Gitterfenster des ehemaligen Jugendwerkhofes Torgau in der heutigen Gedenkstätte in Torgau/Sachsen.
Ehemaliger Jugendwerkhof Torgau: Auch hier kam es zu sexuellem Missbrauch © picture alliance/dpa/Foto: Peter Endig
Von Alexandra Gerlach · 27.11.2017
Sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen gab es in der DDR offiziell nicht - das Thema wurde totgeschwiegen. Betroffen sind auch zahlreiche ehemalige Heimkinder. Vielen fällt es noch heute schwer, über das Erlebte zu sprechen.
Corinna Thalheim war eine der Ersten, die das Schweigen gebrochen und die Betroffenenheitsinitiative "Missbrauch in DDR-Heimen e.V." gegründet hat. Thalheim hat alle Tiefen des Heimlebens in der DDR selbst erlebt und durchlitten.
"Am 19.03.1984 kam ich mit 16 Jahren in den Jugendwerkhof Wittenberg-Lutherstadt. Einweisungsgrund laut meiner Akte 'Schulbummelei, 56 Tage'. Zwangausschulung am gleichen Tag und einen Teilfacharbeiterlehrvertrag zum Wirtschaftspfleger. Das war mein mir vorgeschriebenes Leben, und die Vorstellung des Jugendamtes, mich zum sozialistischen Menschen umzuerziehen."
Corinna Thalheim
Corinna Thalheim© privat
Sie habe sich damals in schlechter Gesellschaft befunden, sagt Thalheim rückblickend, damals drohte sie den Schulabschluss nicht zu schaffen. Daher hatte sie sich gemeinsam mit ihrer Mutter vertrauensvoll an die DDR-Jugendhilfe gewandt. Das Amt verfügte für Corinna Thalheim völlig überraschend Heimunterbringung bis zum 18. Lebensjahr. Hier erlebte sie umgehend massive Gewalt unter Gleichaltrigen, in einem so genannten "Aufnahmeritual" unter der Dusche.
"Aufgrund der Gewalt, die da unter den anderen 19 Mädchen herrscht, beschloss ich für mich, da nicht zu bleiben. Ich wollte einfach wieder nach Hause. Es kam zu insgesamt drei Entweichungen in Wittenberg. Die Folge davon war, dass man mich am 08.04.1985 in den geschlossenen Jugendwerkhof Torgau überführte. Das war das Schlimmste in meinem Leben."

Willkür und militärischer Drill

In der DDR galt der Jugendwerkhof Torgau als Inbegriff gewaltvoller, unbarmherziger Erziehungsmethoden, so genannter "schwarzer Pädagogik", die auch nach DDR-Recht ungesetzlich war. Mehr als 4000 Jugendliche wurden hier in gefängnisähnlichen Zuständen ohne rechtmäßige Verurteilung drangsaliert. Willkür, Gewalt, militärischer Drill und offenbar auch sexueller Missbrauch waren an der Tagesordnung.
"Das sind meine schlimmsten Erinnerungen, meine schlimmsten Erfahrungen. Ich war Willkür und Gewalt ausgesetzt. Das Allerschlimmste war für mich, dass ich dann noch sexuellen Missbrauch durch den Direktor dieser Einrichtung erleben musste. Wenn dies der Versuch war, uns zu sozialistischen Menschen zu erziehen, was als Ziel oben drüber stand ... Entschuldigung ... dann war das Erziehungsprogramm pädagogisch nicht wertvoll. Das was wir bekommen haben ist lebenslänglich, Heimerziehung und lebenslänglich sexueller Missbrauch!"
Corinna Thalheim ist kein Einzelfall, doch nur zögerlich kommt das wahre Ausmaß des sexuellen Missbrauchs in DDR-Kinderheimen, Spezialheimen und Jugendwerkhöfen ans Licht. Jahrzehntelang war das kein Thema, und selbst als sich im Jahr 2010 der vom Bundestag beschlossene Runde Tisch zum Thema "Heimkinder" gründete und seine Arbeit aufnahm, ging es in erster Linie um die westdeutschen Heimkinder.

Mythos sozialistische Menschengemeinschaft

Das Thema sexueller Kindesmissbrauch in der DDR blieb unsichtbar, wie auch schon zu DDR-Zeiten, erklärt Marianne Birthler, die ehemalige Beauftragte für die Stasi-Unterlagen:
"Es gab den Mythos der sozialistischen Menschengemeinschaft in der DDR und da passte so etwas nicht rein. Natürlich bin auch ich gewarnt worden, 'Geh mit keinem Fremden mit' oder so, aber es war alles nebulös und in den Medien ging es höchstens mal um ein einzelnes Verbrechen, aber es waren Menschen, die außerhalb der Gesellschaft standen, die nicht dazu gehörten. Dass das Alltag war in vielen Familien, erst recht in den Heimen, das war nicht bekannt und das sollte auch nicht bekannt werden."
Marianne Birthler (deutsche Politikerin, Abgeordnete, Ministerin, Chefin von Bündnis 90/Grünen, Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR 2000-2011)
Marianne Birthler: Der Missbrauch war Alltag© Deutschlandradio / Bettina Straub
Außerhalb der Gesellschaft standen auch jene Jugendlichen, die mit ihrem nicht-konformen Verhalten in den Blick der DDR-Jugendhilfe gerieten. Die Erziehung aller DDR-Bürger zu "vollwertigen Mitgliedern der sozialistischen Gesellschaft" genoss hohe Priorität im von Margot Honecker gelenkten Bildungswesen der DDR.

Die harte Hand des Staates

Für Individualität war kein Platz. Wer sich widersetzte oder entzog, hatte mit der harten Hand des Staates zu rechnen. Oftmals führte der Weg jener, die sich nicht anpassen wollten, letztlich in die gefürchteten so genannten Jugendwerkhöfe. Die Jungen und Mädchen in diesen Einrichtungen waren von Anfang an stigmatisiert. Manche bis heute, wie Corinna Thalheim berichtet:
"Nach meiner Entlassung, mit 18 Jahren kam ich zurück in meine Elternhaus und habe geschwiegen aus Angst und Scham. In meinem Heimatort war ich die aus dem Knast. Und keiner wusste, was es für mich bedeutet hat, diese schrecklichen Dinge erleben zu müssen. Die Aufklärung in der DDR unter der Bevölkerung war miserabel, weil niemand wusste, was in Jugendwerkhöfen passiert, und niemand konnte sich vorstellen, welche Gewalt dahinter lag. Und was man Kindern angetan hat, Kindern, die ohne Urteile in solche Einrichtungen ... - einfach nur mit Beschlüssen des Jugendamtes."

Das Ausmaß des Missbrauchs ist unklar

Eine unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs in der DDR hat im Mai 2016 ihre Arbeit aufgenommen. Bislang haben sich rund 1000 Betroffene für Anhörungen angemeldet. Rund 250 von ihnen wurden bereits vertraulich gehört, dennoch ist völlig unklar, wie groß das Ausmaß des Missbrauchs in der DDR tatsächlich war, konstatiert Kommissionsmitglied Christine Bergmann:
"Ich glaube, hier ist noch sehr viel mehr Forschung nötig. Die Akten sind längst nicht ausgewertet, auch Torgau zum Beispiel. Was da aufgearbeitet ist, haben die Betroffenen selbst gemacht, soweit sie das mit ihren bescheidenen Kräften könnten. Also hier ist viel nötig an Aufarbeitung, weil dies nötig ist für Aufklärung und Prävention."
Christine Bergmann (SPD), frühere Familienministerin
Frühere Familienministerin Christine Bergmann© dpa/picture alliance/Hannibal Hanschke
Problematisch hinsichtlich der Aktenlage erweist sich Bergmann zufolge, dass die Erkenntnisse in erster Linie aus Stasi-Akten stammen und zumeist die Täter-Perspektive einnehmen. Andere Quellen sind kaum verfügbar, abgesehen von den Opfern. Die Aufklärung jedoch sei essentiell, sagte die Sozialdemokratin, denn:
"Für die Opfer heute bedeutet das, dass sie immer noch nicht die Anerkennung finden, die sie eigentlich brauchen, auch in der Gesellschaft nicht. Dadurch, dass es ja nicht nur in der DDR, sondern auch bis 2010 immer noch in Ostdeutschland überhaupt kein Thema war. Es gab auch kaum Hilfsangebote, Beratungs- oder therapeutische Einrichtungen. Und es bedeutet, dass sie immer noch nicht wirklich gut reden können, manche sind sehr mutig und machen das. Andere rechnen damit – und nicht zu Unrecht, dass sie diskriminiert, ausgegrenzt werden, so 'Die war im Jugendwerkhof, die wird schon was gemacht haben'. Das ist immer noch sehr in den Köpfen verankert."

Die Opfer leiden an den Spätfolgen

Bei rund 70 Prozent der Betroffenen, die sich bislang an die Kommission gewandt haben, fand der Missbrauch in der Familie oder im direkten sozialen Umfeld statt, gefolgt von Missbrauch in Institutionen. Viele Opfer leiden bis heute an den Spätfolgen, sagt die Psychologin Stefanie Knorr, die auch an der ersten Expertise der Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs in der DDR mitgearbeitet hat:
"Außerdem fiel auf, dass die Betroffenen mehrfache Gewalt erlitten haben und Unrecht durch das repressive System in der DDR, und dass sie heute häufig unter den schweren gesundheitlichen und sozialen Folgen des sexuellen Missbrauchs und der weiteren Gewalt leiden."
So wie etwa der 55-jährige René Münch, der nach seiner Geburt in einem Leipziger Haftkrankenhaus schon als Säugling erste Heimerfahrungen machen und sexuellen Missbrauch erleben musste, der sich durch seine gesamte Jugend ziehen sollte. Gezeichnet habe ihn das bis heute sagt René Münch:

"Ich hätte gerne Familie gehabt"

"Dass mit mir etwas nicht stimmt, das habe ich mitgekriegt. Ja, ich habe versucht, mal mit 18 Jahren, habe ich ein Mädchen kennengelernt, da ging nix. Da habe ich gesagt, irgendetwas ist hier faul. Dann habe ich versucht mal mit Männern. Ging auch nicht. Panik, Angst. Ich hätte gerne Familie gehabt, auch gegründet, aber die Angst, dass dasselbe mit dem Kind passiert, was mir passiert ist, ist da. Oder eine Beziehung eingehen ist schwierig, weil Panik, Angst ist immer da. Das verfolgt einen bis zum Lebensende."
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