Sexuelle Gewalt an Kindern

Erst missbraucht, dann allein gelassen

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Illustration: Eine männliche Hand bedeckt die Augen eines kleines Mädchens.
Das Wohl der Kinder wird mitunter zu wenig gesehen, sagt die Erziehungswissenschaftlerin Sabine Andresen. © imago / fStop Images / Malte Müller
Sabine Andresen im Gespräch mit Dieter Kassel · 07.09.2021
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Sexuelle Gewalt ist ein Tabu, über das in der Regel nicht gesprochen wird. Besonders perfide ist die Gewalt, wenn Täter aus der eigenen Familie kommen. Eine neue Studie zeigt, wie diese die Opfer und das Umfeld zum Schweigen bringen.
Fast jedes zweite Kind, das in seiner Familie sexuelle Gewalt erleidet, wird von seinem Vater, Stief- oder Pflegevater missbraucht. Das geht aus einer Studie hervor, die auf der Auswertung von Betroffenenberichten beruht und jetzt in Berlin von der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs vorgestellt wurde.
Danach machen Väter 48 Prozent der Täter aus; Mütter, Stief- und Pflegemütter zehn Prozent. Außerdem berichten die Betroffenen von Onkeln, Brüdern, Großvätern und anderen überwiegend männlichen, aber auch weiblichen Verwandten, als Täter und Täterinnen.
Viele Kinder erlebten die Gewalt durch mehr als eine Person innerhalb und außerhalb der Familie. Bei fast jedem zweiten Kind begann der Missbrauch vor dem sechsten Lebensjahr, dauerte viele Jahre und wurde nur selten durch Eingriffe von außen beendet.
Professorin für Sozialpädagogik und Familienforschung: Sabine Andresen.
Professorin für Sozialpädagogik und Familienforschung: Sabine Andresen. © Aufarbeitungskommission / Barbara Dietl
Die Wissenschaftlerinnen der Frankfurter Goethe-Universität sehen eine Erklärung darin, dass die Scheu, in Familienangelegenheiten einzugreifen, besonders groß ist - nicht nur bei Privatpersonen, sondern auch bei Fachkräften des Jugendamts.
Viele Betroffene berichteten, dass ihre Familien sogar Kontakt zum Jugendamt hatten, von dort aber keine Hilfe gekommen sei, sagt die Leiterin der Studie, die Erziehungswissenschaftlerin Sabine Andresen, die auch der Aufarbeitungskommission vorsitzt. Bei den Ämtern hätten oft die Interessen anderer Familienmitglieder im Fokus gestanden.

Familie als privater Raum

Die Opfer würden also oft alleingelassen. Grund sei vor allem, dass die Familie noch immer als privater Raum gesehen werde. Das mache es Kindern, die betroffen seien, besonders schwer, sich jemandem außerhalb der Familie anzuvertrauen.
Etwa die Hälfte der Betroffenen habe sogar vom Missbrauch erzählt, berichtet Andresen. Sie hätten dann jedoch häufig erlebt, dass sich Lehrer, das Jugendamt oder Nachbarn nicht einmischen wollten.
Manchmal kommt es auch zur räumlichen Trennung von Täter und Opfer. Doch die Täter seien es, die dann in der Regel in der Familie blieben. "Und es sind dann die Betroffenen, die die Familie verlassen müssen." Wenn sich die Opfer dann entschieden, in Kontakt mit ihrer Familie zu bleiben, müssten sie nach Wegen suchen, nicht mit dem Täter konfrontiert zu werden.
Den Täterinnen und Tätern gelingt es der Studie zufolge vielfach, den Schein der Normalität aufrecht zu erhalten. Sie bringen die Kinder mit Drohungen zum Schweigen. Im Familienalltag ist die sexuelle Gewalt häufig eng verwoben mit der Erziehung, mit Strafen, Ritualen, aber auch mit vorgeblicher Fürsorge.

Die Familie bleibt immer ein Teil der Biografie

Die Ergebnisse der Studie beruhen auf einer nicht repräsentativen Auswertung von 870 persönlichen Berichten. Zwischen 16 und 80 Jahren waren die Betroffenen alt, die sich an die Kommission wandten.
Die Berichte dieser Menschen zeigten, wie schwer der Umgang mit dem Missbrauch sei. "Man kann die Herkunftsfamilie nicht verlassen, sie bleibt immer auch Teil der Biografie", betont Andresen. Oftmals werde auch viele Jahre später nicht über die erlittene Gewalt gesprochen.
(ros/epd)
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