Sexualität in der Medizin

Lust als universelles Menschenrecht

Schwarzweißfotografie der Silhouette einer Frau mit iritierenden Lichtspielereien
Sorge ums Körpergefühl: Wie kann es weitergehen mit dem sexuellen Erleben etwa nach medizinischen Eingriffen? © Denys Argyriou/Unsplash
Von Jenny Genzmer · 16.08.2018
Wer im Intimbereich schwer erkrankt, macht sich Sorgen um sein sexuelles Empfinden. Diese Sorgen müssen ernster genommen werden, sagen Therapeuten und Berater: Sie fordern ein offenes Gespräch über das Anrecht auf sexuelles Wohlbefinden.
Ich treffe Mal Harrison im Soho Haus in Berlin. Für die Radioaufnahme haben wir einen etwas ruhigeren Ort gesucht - und ein lindgrünes Sofa hinter dem Barbereich gefunden. Ich hatte damit gerechnet, dass das Gespräch mit ihr persönlich wird. Aber nicht so persönlich.
"Ich fang mal mit einer lustigen Geschichte an. Ich hatte viele Empfindungsstörungen, als ich Krebs hatte. Vielleicht war ich auch gestresst, aber ich hab ständig ins Bett gemacht. Ich musste ständig Wäsche waschen, das war lästig, ich war ja an der Uni und ich dachte nur… was für ein Scheiß."

Diagnose: Gebärmutterhalskrebs

Harrison war 22 und studierte Operngesang an der School of Music in Manhattan. Dann kam die Diagnose: Gebärmutterhalskrebs - und alles drehte sich um die Krankheit. Aber akzeptieren, dass ihre Bedürfnisse deshalb in den Hintergrund treten, wollte sie nicht.
"Dann habe ich meinen Freund Spencer angerufen und habe ihn gefragt – was soll ich machen? Und er sagte mir, hey, du findest die Liebe schon noch, schalte einfach eine Anzeige bei Craigslist, dass du nach jemandem mit einem Windel-Fetisch suchst. Und das habe ich gemacht. Ich habe dann niemandem geantwortet, aber ich hab gesehen, dass es da hunderte Menschen mit einem Windelfetisch gibt und dass wir alle jemanden finden können, egal welche Krankheit wir haben."

Sorge ums Körpergefühl

Operationen, Chemotherapie, Bestrahlung - es sind schwere Eingriffe, die eine Krebstherapie oft erfordert. Mal Harrison macht sich Gedanken über die Zeit danach. Wie riskant sind Operationen im Beckenboden etwa, einem Bereich, wo unzählige verletzliche Muskelfasern und Nervenbahnen verlaufen, die mit den Sexualorganen zusammenhängen oder für das Lustempfinden wichtig sind. Sie beschäftigt der Gedanke, ob ihr Körpergefühl wieder dasselbe sein wird wie vor der Therapie:
"Ich liebe Musik, wenn ich keine Musik spielen kann, wenn ich keinen Sex haben kann, wenn ich kein Essen schmecken kann, dann wäre ich tot. Das alles sind einfach wichtige Freuden des Lebens. Und ich denke immer daran."

Ein TED-Talk mit Mal Harrison zum Thema "erotische Intelligenz":

Für ihre Ärztinnen und Ärzte war das damals kein Thema. Mal Harrison aber ist Sexualberaterin und Beziehungscoach geworden. Gespräche über sexuelle Gesundheit, und wie es während und nach der Therapie damit weitergeht, erzählt sie, vermisst ein großer Teil ihrer Klientinnen und Klienten, die eine schwere Krankheit durchlitten haben. Auch wenn es um das Thema Fruchtbarkeit geht.
Und das ist kein US-amerikanisches Problem. Frauen, die nach einer Diagnose innerhalb weniger Tage existentielle Entscheidungen treffen müssen. Möchte ich Kinder oder nicht, gibt es überhaupt einen Partner, mit dem das möglich ist, Eizellen einfrieren - sollte ich darüber nachdenken - viel zu wenige werden danach gefragt.

Behandelt wird nicht die Krankheit, sondern der Mensch

Richard Greil ist Leiter des medizinischen Universitätsklinikums für Hämatologie und Onkologie in Salzburg und Gründer der Österreichischen Akademie für Sexualmedizin. Er erklärt: "Wenn Sie sich jetzt noch vorstellen, wie das ausschaut für Menschen, die gar keinen Partner haben oder die homosexuell sind, dann können sie sich vorstellen, wie groß die Problematik dort wird."
All das seien Situationen, in denen Menschen dringend Beratung brauchen. Trotzdem gebe es damit kaum Beschäftigung, sagt er. Von Patientinnen und Patienten, die den Krebs überlebt haben, wisse man, dass sich nur knapp vierzehn Prozent daran erinnern können, dass jemals mit ihnen über das Thema Sexualität im Allgemeinen, aber auch über die jeweiligen spezifischen Probleme gesprochen worden wäre.
Nur: ist es nicht verständlich, dass Patienten und Patientinnen, Ärzte und Ärztinnen - angesichts einer schweren Krankheit erst einmal nur an eines denken: Nämlich daran, die Krankheit zu besiegen? Natürlich, aber:
"Gleichzeitig muss das Verständnis da sein, dass wir nicht eine Krankheit, sondern dass wir einen Menschen mit einer Erkrankung behandeln. Krebs ist als solches eine Systemerkrankung des gesamten Menschen. Es betrifft immer den Menschen in seinem sozialen Umfeld, in seinem beruflichen Umfeld, in seiner Partnerschaft."

Die Würde des Menschen

Schon nach dem Zweiten Weltkrieg hat die Weltgesundheitsorganisation den Aspekt der gesunden Sexualität in ihrer Definition von Gesundheit hervorgehoben. Demnach hat der Mensch ein Anrecht auf körperliches, seelisches, geistiges, soziales und auch sexuelles Wohlempfinden. Greil sieht hier eine große sozial- und gesellschaftspolitische Wende in der Medizin. Sie macht den Patienten zum Subjekt in der Arzt-Patienten-Beziehung, zu jemandem, der oder die ein Anrecht hat - auf Glück und Erfüllung.
"Dass wir selbst der Herr über uns sind, dass wir uns selbst gestalten können. Uns von dem Schicksal nicht unterminieren lassen. Wir leben unsere Individualität und daraus entsteht unsere Würde. Die Würde entsteht nicht aus der Abwesenheit von Krankheit. Die Würde entsteht aus der Selbstgestaltung und Autonomie in dem Umfang, in dem wir das können."

In Kontakt mit sich selbst

Selbstgestaltung und Autonomie - auch für Mal Harrison ist das wesentlich. Bei einer gesunden Sexualität geht es für sie deshalb auch nicht nur um Fruchtbarkeit, eine funktionierende Partnerschaft oder Sex.
Sondern "es geht auch um Selbstbefriedigung. Das ist für mich wie ein Mittel, um mich zu entspannen zum Beispiel, wenn ich gestresst bin. Dabei verarbeite ich alles Mögliche in meinem Kopf, das ist meine Art, achtsam mit mir zu sein und unabhängig. Für mich ist das ein Weg, mit mir selbst in Kontakt zu kommen, im wahrsten Sinne des Wortes. Es wäre schlimm für mich, diese Freude des Lebens nicht erfahren zu können."

Sexuelle Gesundheit als Wert an sich

Lust als Voraussetzung für Lebensqualität, losgelöst von dem Nutzen für die Beziehung oder der Möglichkeit, Kinder zu gebären. Was für Mal Harrison selbstverständlich ist, ist für viele andere ein Problem. Zehn bis 50 Prozent aller Männer und Frauen, die nicht an einer organischen Krankheit leiden, haben unausgesprochene sexuelle Funktionsstörungen – Empfindungsprobleme, Schwierigkeiten bei der Erektion, beim Orgasmus oder Hemmungen. Sexuelle Gesundheit als Wert für sich zu betrachten, ist also nicht nur etwas, wofür sich mehr Ärztinnen und Ärzte sensibilisieren sollten.
Viel wichtiger wären mehr offene Gespräche, ein gesamtgesellschaftlicher Ansatz. Einer, in dem nach Mal Harrison auch technologische Entwicklungen eine Rolle spielen könnten:
"Wenn wir irgendetwas tun könnten, unseren Beckenboden oder Nerven nach einer Operation oder einer Geburt wieder aktivieren könnten, dann wären wir einem Ziel so viel näher: Lust als universelles Menschenrecht zu schützen."
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