Sexualisierte Gewalt in Frankreich

Briefkästen als Anlaufstelle

04:57 Minuten
Ein weißer Briefkasten an einem Haus
Rund 200 Briefkästen hat Laurent Boyets Organisation "Papillons" in Frankreichs Schulen und Sportclubs installiert. Mehr als 60.000 Kinder haben Zugang zu ihnen, könne so auf ihre Sorgen aufmerksam machen. © picture alliance / dpa / Gregory Yetchmeniza
Von Christiane Kaess · 29.11.2022
Audio herunterladen
Was tun bei sexualisierter Gewalt? Polizist Laurent Boyet wurde von seinem Bruder vergewaltigt. Der Familie konnte er sich nicht anvertrauen. Nun hilft er anderen: Er hängt weiße Briefkästen an Schulen auf, in die Betroffene ihre Sorgen werfen können.
Sie hängen in Grundschulen oder Sport-Vereinen. Auf den weißen Briefkästen kleben grüne und blaue Schmetterlinge. „Papillons“ steht in großen Buchstaben darunter.
Die Idee, dass Grundschulkinder durch Briefe berichten können, wenn sie Gewalt erfahren, kam Laurent Boyet aufgrund seiner eigenen Erfahrungen. Boyet war selbst Opfer sexualisierter Gewalt. Zwischen sechs und neun Jahren sei er von seinem zehn Jahre älteren Bruder regelmäßig vergewaltigt worden, erzählt er:
„Damals war ich unfähig, darüber zu sprechen, was mein Bruder mir angetan hat. Aber ich habe es aufgeschrieben – in einem persönlichen Tagebuch. Weil ich in der eigenen Familie zum Opfer wurde, gab es für mich dort auch keinen Erwachsenen mehr, zu dem ich Vertrauen fassen konnte. Das ging nur noch in meiner Schule und im Sportverein. Es hat es dreißig Jahre gedauert, bis ich über den Missbrauch auch reden konnte.“

Schreiben kann helfen

Seine Erfahrungen hat der heutige Polizist in einem Buch veröffentlicht. Der Titel: „Alle Brüder machen das“. Es ist einer der Sätze, mit dem sein Bruder ihn als kleinen Jungen zum Schweigen brachte.
„Wenn man als Kind Opfer von Gewalt ist, ist es schwierig, das zu erzählen", sagt er. Denn man fühle Schande und Schuld. Und vor allem drohten die Täter: "Wenn Du darüber redest, werde ich Dir das und das antun." So werde den Kindern verboten, darüber zu sprechen, wie er sagt. "Aber die Täter können uns nicht verbieten, zu schreiben und auf diese Weise darüber zu berichten.“  

Abonnieren Sie unseren Weekender-Newsletter!

Die wichtigsten Kulturdebatten und Empfehlungen der Woche, jeden Freitag direkt in Ihr E-Mail-Postfach.

Vielen Dank für Ihre Anmeldung!

Wir haben Ihnen eine E-Mail mit einem Bestätigungslink zugeschickt.

Falls Sie keine Bestätigungs-Mail für Ihre Registrierung in Ihrem Posteingang sehen, prüfen Sie bitte Ihren Spam-Ordner.

Willkommen zurück!

Sie sind bereits zu diesem Newsletter angemeldet.

Bitte überprüfen Sie Ihre E-Mail Adresse.
Bitte akzeptieren Sie die Datenschutzerklärung.
Das Schreiben sei eine Befreiung und gebe viel Kraft, ist sich Boyet sicher. Diese Erfahrung bestätigt die Schuldirektorin einer Grundschule im Osten des Landes. Ihren Namen will sie nicht nennen, um das Vertrauen der Familien in die Schule nicht zu verlieren, sagt sie. Seit ein paar Monaten hängt an ihrer Schule ein Schmetterlingsbriefkasten.
„Ich habe mir erst gesagt, wir können das probieren, aber ich hatte nicht erwartet, dass so viele Briefe von den Kindern eingeworfen werden. Zu meiner großen Überraschung sind sie sehr empfänglich für diese Möglichkeit und zeigen ein großes Interesse. Sie schreiben über ganz unterschiedliche Dinge. Es geht um kleine Sorgen unter Schülern, die man leicht lösen kann. Aber es geht auch um Probleme in der Familie. Die schweren Fälle meldet die Vereinigung Papillons, wenn nötig der Polizei.“

Zugang für Zigtausende

So kamen an ihrer Schule bisher die Vergewaltigung eines Kindes in der Familie sowie ein weiterer Missbrauchsfall ans Tageslicht, erzählt sie. Sie wolle den Briefkasten nicht mehr missen, sagt die Schulleiterin. An die 200 Briefkästen hat Laurent Boyets Organisation mittlerweile in Frankreichs Schulen und Sportclubs installiert. 61 000 Kinder haben Zugang zu ihnen. Doppelt so viele sollen es werden, sagt Boyet.
Die große Stärke der Schmetterlingsbriefkästen sei, sagt er, dass vor allem die Acht-bis Neunjährigen schreiben. Sie machen mehr als 40 Prozent aus. Die zweite Altersklasse, die die meisten Briefe hinterlässt, sind die Sechs-und Siebenjährigen.

Das sind Kinder, die nicht die staatliche Notrufnummer gegen Kindesmissbrauch anrufen können, weil sie noch kein Handy haben. Es sind also Kinder, die ohne die Schmetterlingsbriefkästen uns nicht mitteilen könnten, wovon sie sich befreien müssen.

Laurent Boyet

Den Tätern auf der Spur

Sieben Prozent der Briefeschreiber und Schreiberinnen verweisen laut der Vereinigung auf sexualisierte Gewalt in der Familie. 70 Prozent davon sind Mädchen. Andere Kinder schütten ihr Herz über gewaltsame Strafen zu Hause aus oder über Aggression und Mobbing durch Mitschüler.
Auch Ängste schreiben sich manche von der Seele. Die Kinder werden aufgefordert, ihren Namen auf dem Brief zu hinterlassen, damit ihnen geholfen werden kann. Laurent Boyets Aktion läuft in Zusammenarbeit mit den kommunalen Behörden.
In jedem Ort, in dem Briefkästen stehen, analysieren zwölf ehrenamtliche Ärzte, Psychologen, Lehrer und Polizisten die Briefe der Kinder. So ist es möglich, Tätern auf die Spur zu kommen. Wie in dem Beispiel, das Laurent Boyet nennt.
„Letzten Juni haben wir in einer Schule einen Briefkasten aufgehängt. Direkt am Vormittag hat ein Mädchen einen Brief mit schweren Vorwürfen gegen einen Mann eingeworfen, dessen Vornamen sie nannte. Sie schrieb: Er hat sein unteres Teil in mein unteres Teil gesteckt. Am Nachmittag haben unsere Experten den Staatsanwalt benachrichtigt. Ein paar Tage später wurde das Mädchen mit seinen Eltern angehört. Es wurden zwei weitere Kinder als Opfer in der Familie identifiziert und der Großvater wurde festgenommen. Er ist bis jetzt in Untersuchungshaft.“   

 
Mehr zum Thema