Setzen, Eins!

Eine Bildungsnation im Leistungsrausch?

29:12 Minuten
Schüler sitzen in einem Klassenraum.
An Schulen und Hochschulen in Deutschland sind die Noten in den letzten Jahren immer besser geworden. © imago/Westend61
Von Peter Kessen · 25.02.2019
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In den letzten zehn Jahren hat sich bundesweit die Zahl der 1,0-Zeugnisse verdoppelt. Das Abitur sei entwertet, so der Vorwurf. In weiten Teilen der Universitätslandschaft herrsche dasselbe Prinzip. Aber ist die Kritik überhaupt berechtigt?
Ballettunterricht für die Jungen der 11. Klasse der Staatlichen Ballettschule in Berlin. Hier lernt eine Tanzelite, die später auf der ganzen Welt arbeiten wird, auch an den führenden Opernhäusern. Die Aufnahmeprüfung ist so anspruchsvoll wie das Unterrichtsniveau. Eine besondere Schule, auch unter den Berliner Bildungseinrichtungen: Die Staatliche Ballettschule erreichte 2018 den besten Abiturdurchschnitt der berufsbildender Schulen der Hauptstadt.
Ein Großtrend? An den Schulen und Hochschulen in Deutschland sind die Noten immer besser geworden, viele Untersuchungen und Statistiken belegen das. Kritiker sprechen gar von einer Noteninflation, von entwerteten Zensuren, weil es immer leichter sei, gute Noten zu bekommen.
"Und wir können sehen, das geht dann zurück bis Anfang der 70er-Jahre. Dass es dort eine ständige Verbesserung gegeben hat..."
Professor Gerd Grözinger, Bildungsforscher über die Entwicklung der durchschnittlichen Abiturnoten in Deutschland.
"Wir fangen so mit etwa 2,9 Durchschnitt an. Und liegen heute eher so, bei 2,1 oder 2,2."
Der Wissenschaftsrat der Bundesregierung, publizierte bereits im Jahr 2012 eine Studie zur Verbesserung der Abschlussnoten an den Hochschulen. Die Noten "sehr gut" und "gut" wurden demzufolge im Prüfungsjahr 2011 an knapp 80 Prozent der Diplom- und Magister-Absolventen vergeben. Das war ein Anstieg von neun Prozent, verglichen mit 2000.
Konservative Bildungskritiker lesen das nicht als Erfolgs-, sondern als Verfallsgeschichte, als Beleg für ein abgesenktes Leistungsniveau. So beklagt der Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, Heinz-Peter Meidinger im Frühjahr 2018 eine "Inflation" guter Schul- und Abiturnoten. Der Mainzer Professor Werner Müller kritisiert die behauptete Noteninflation sogar auf einer eigenen Webseite.
Die Schüler und Schülerinnen der staatlichen Ballettschule Berlin erreichen das beste Abitur der berufsbildenden Schulen der Hauptstadt. Schuldirektor Professor Dr. Ralf Stabel interessiert das nicht besonders:
"Das kann sein. Hab ich jetzt nicht parat."
Weiß der Schulleiter denn wenigstens die Durchschnittsnote beim Tanz?
"Hab ich noch nie ermittelt."

Smileys statt Noten

Die Jungen und Mädchen erreichten im Jahr 2018 im Durchschnitt ein Abitur von 2,1. Die Eliteschule gehört weltweit zu den besten Ausbildungsstätten für klassischen Tanz. Was ist das Geheimnis des Erfolges? Sind es einfach die perfekten Schüler? Wie zum Beispiel Leonhard Kilian Urban, 14 Jahre alt, aus Ludwigsfelde in Brandenburg.
"In den ersten Klassen hatten wir keine Noten, sondern Smileys. Da hatte man dann immer diese ganz lächelnden Smileys, die halb lachenden, die neutralen und die etwas traurig sind... Und als dann die Noten kamen hat man sich gefreut, dass man von den Smileys weg ist. Und die Zahlen hatte... Bis ich dann einmal, wo ich meine erste 5 bekommen habe, das war in einer Mathe-Klassenarbeit, und ich hab‘ mich, so schlecht gefühlt, dass ich es eine Woche, meinen Eltern nicht gesagt hab... Und auf dem Weg nach Hause hab ich geheult wie sonst was... die erste 5 war bisschen schlimm! Das war ein einzigartiger Vorfall, weil ich gemerkt habe, dass ich das nächste Mal besser lerne, dass ich nicht mehr in diese Stresssituation komme."
Die meisten Schüler und Schülerinnen in Deutschland starten heute nicht mehr mit Noten, sondern mit Smileys. Das war auch bei der 13-jährigen Ballettschülerin Emily Wunderlich aus Rangsdorf in Brandenburg so. Heute wird sie benotet, beim Tanzen sogar recht streng:
"Im Praxisbereich wird ein bisschen anders bewertet, weil die meisten Noten eigentlich 2 und 3 sind. Weil man eine 1 selten bekommt, weil... eigentlich ist... man im Ballett nicht perfekt, und darum bekommt man die Note 1 sehr selten. Ich denke es ist schon gut... weil wenn man hier jetzt eine 1 bekommt. Ist es schon so: Ja, ich bin gut. Ich brauch mich nicht zu verbessern. Da geben die Lehrer vielleicht eine schlechtere Note, dass man sich denkt: Ich will noch besser werden... das wollen die Lehrer schon, dass man sich sehr doll anstrengt, dass man die bessere Note dann bekommt."
Stabel: "Die Zahlen sind nicht wirklich interessant. Es fängt schon an interessant zu werden, wenn man sich überlegt, wofür stehen die Zahlen eigentlich. Und da ist ja, die goldene Regel, ist ja eigentlich: Eine Drei bekommt jemand, der die Aufgabe vollumfänglich löst. Und das ist im normalen Leben gar nicht zu schaffen. Und wenn jemand über dem Durchschnitt liegt, dann ist das eine 2. Und dann gibt es noch Menschen , die herausragende Leistungen bringen. Und das ist dann wirklich eine 1."

Zensurenvergabe gibt es seit fast 500 Jahren

Die ersten Zensuren in Deutschland standen in der sächsischen Schulordnung von 1530. Jeder Schüler solle jedes halbe Jahr beurteilt und im Falle, dass der Lehrer oder Pfarrer ihn für gut befinde, mit einer "Semmel oder dergleichen" belohnt werden.


Mitte des 19.Jahrhundert vergaben die preußischen Schulen drei Noten, später wurden es fünf. Das heute in Deutschland übliche sechsstufige Notensystem wurde 1938 eingeführt. Damit wirkte man der Dominanz der 3 entgegen, denn bei einem fünfstufigen System tendierten viele Lehrer dazu, die mittlere Note zu vergeben. Dies kann man mit einer geraden Anzahl an Noten verhindern. Die 6 sorgt, damit durchaus gut in die Bildungsvorstellungen der Nationalsozialisten passend, für stärkere Leistungshierarchien und dient der härteren Abwertung von Leistungsschwächeren.
Junge zeigt seiner Mutter das Zeugnis. Historischer Holzstich von 1886.
Ein historischer Holzstich von 1886.© picture alliance/dpa/imageBROKER
Das Notensystem in der Bundesrepublik Deutschland basiert größtenteils auf dem Beschluss der Kultusministerkonferenz vom Oktober 1968 und wird in allen Bundesländern wie folgt verwendet: Sechs Noten stellen fest ob die Leistung den Anforderungen:
In besonderem Maße entspricht 1
Voll entspricht 2
Im Allgemeinen entspricht 3
Mit Mängeln entspricht 4
Mit Mängeln entspricht, die aber behoben werden können in absehbarer Zeit 5
Nicht entspricht mit Mängeln, die in absehbarer Zeit nicht behoben werden können 6
An der Universität werden Studienleistungen und Abschlussarbeiten in der Regel mit Noten von "1" bis "5" eingestuft. Manche Hochschulen verwenden auch die sechs Schulnoten. Eine Note, welche schlechter als 4,0 ist, führt in der Regel zum Nichtbestehen.

Anders lernen mit der Waldorfpädagogik

Viele Schulen, darunter besonders die Waldorfpädagogik, suchen nach Alternativen zum traditionellen Notensystem. So auch die Evangelische Schule Berlin Zentrum. Die Direktorin Caroline Treier begründet ihr "Nein" zur Herrschaft der Zahlen:
"Wenn es die Ziffernnoten in Schulen gibt, besteht die Gefahr, dass sich das schulische System sehr stark auf Noten reduziert. Wenn sie Lernende befragen, gehen sie in klassische Schulen und fragen sie dort. Das ist nicht das Gefühl: ´Toll, dass mir jemand sagt, wo ich stehe.` Und dieses System muss absolut gebrochen werden."

Die Schülerschaft lernt anders, die Jugendlichen bestimmen ihre Test-Termine selbst, Tutoren helfen im Alltag, ein Lernlogbuch soll die Selbstreflexion fördern, ein Lernvertrag die Verbindlichkeit garantieren. Dazu kommen statt Noten mündliche und schriftliche Rückmeldungen. Sogenannte Zertifikate geben eine Übersicht der Kompetenzen in Arbeitsorganisation, Anstrengungsbereitschaft und fachlichem Wissen. Es gibt keine Noten, sondern vier Stufen, beginnend mit der Einschätzung "Du hast die Kompetenz noch nicht erreicht!".
Treier: "Die Jugendlichen erhalten dann eine schriftliche Rückmeldung, die ist viel differenzierter als eine Note. Ab dem Zeitpunkt, wo eine Note da ist, konzentriert sich der Lernende nur auf die Note, bei einer schriftlichen , einer verbalen Rückmeldung sehe ich, welche Kompetenzen habe ich schon erreicht, noch nicht erreicht und welche muss ich noch erwerben."
Diese Regeln gelten aber nur für die Klassen 5 bis 9. In der Oberstufe herrschen wieder die Ziffernnoten. Caroline Treier bedauert diesen Bruch. Trotzdem – beim Abitur gehören ihre Schützlinge zu den besten Berlins: Im Jahr 2018 mit einen Notendurchschnitt von 1,9.

Noten abschaffen? – Hessen starte Modellprojekt

Ende Januar 2019 gab die neue, schwarz-grüne hessische Landesregierung bekannt, im Rahmen eines Modellprojektes die Schulnoten abschaffen zu wollen: Knapp zehn Prozent der Schulen dürfen für 5 Jahre die Ziffernnoten durch schriftliche Beurteilungen ersetzen. Allerdings nur unter der Voraussetzung, dass Schulkonferenz, Eltern und Schüler dafür sind. Zudem gelten weitere Einschränkungen: Auf Abschlusszeugnissen und beim Schulwechsel müssen nach wie vor Ziffern stehen. Auch in der gymnasialen Oberstufe gibt es weiterhin Zensuren.
Das Modellprojekt beruht auf einer Initiative der hessischen Grünen: Es gehe um eine "Aufbruch" in der Bildungspolitik, da – Zitat – "Bildungsziele mit einer anderen Pädagogik teilweise besser zu erreichen seien". Die Noten sollen vor allem in den Gesamtschulen verschwinden.


5600 Studenten lernen an der Hochschule Mainz in den Fakultäten Wirtschaft, Technik und Gestaltung. Hier studiert auch der 24-jährige Marten Pukrop Betriebswirtschaftslehre. Zudem engagiert er sich im Asta, dem allgemeinen Studentenausschuss. Wenn er sich an seine ersten Noten erinnert, fällt ihm vor allem eines ein:
Zeugnis eines Gymnasiums
Hat das klassische Zeugnis ausgedient? © imago/Sven Simon
"Was für mich persönlich Motivation war, dass meine Mutter gesagt hat, wenn ich eine 1 oder 2 schreibe, kriege ich dafür jeweils Geld. Das war für mich eine okaye Motivation."
Sie führte ihn – in gewisser Weise folgerichtig – zum Studium der Betriebswirtschaftslehre, wobei er das Leistungsniveau und die Motivation dort nicht allzu hoch einschätzt.
"Gering. Ich glaube generell, das ist ein Problem von BWL. Ich habe ja auch erklärt, ich bin mehr so durch Zufall da rein gerutscht. Aber ich glaube, es rutschen ganz viele durch Zufall da rein. Und das führt dazu, dass so ein bisschen das fachliche Interesse bei vielen fehlt. Es ist oft einfach die Notfalloption."

Kritik an der "Noteninflation"

Die Benotung sei sehr unterschiedlich, manche Fächer würden alle mit einer 1 oder 2 bestehen. Aber im Fach Statistik sei man mit einer 3,3 schon besser als der Durchschnitt.
An der Hochschule Mainz unterrichtet auch Professor Werner Müller, Experte für Rechnungswesen und Controlling. Professor Müller betreibt seit dem März 2017 eine recht populäre Website mit dem programmatischen Titel "Noteninflation".
"Also, ich hab mich, als ich frisch hier hereingekommen bin, erst mal an den gesetzlichen Vorgaben orientiert. Da haben wird in der Prüfungsordnung eine ganz klare Ansage. Die stehen so in allen Prüfungsordnungen auch noch drin: Eine den durchschnittlichen Anforderungen entsprechende Leistung ist eine 3. So, und eine 2 ist definiert. Eine erheblich über den durchschnittlichen Anforderungen liegende Leistung. Und eine 1 ist herausragend. Wenn man jetzt in der Vergangenheit so zu meiner Zeit eine Gruppe von 50 Studenten, von denen hatte ich zwei oder drei Leute im 1er-Bereich. Dann sind das zwei Prozent, vielleicht zwei Prozent. Das kann‘s geben. So, und dann haben wir dann irgendwie den großen Mittelteil gehabt, der irgendwie im Dreierbereich dann angesiedelt ist."
Wer so benotet, hat im universitätsinternen Wettkampf um Zuhörer, Zuwendungen und Bewertungen natürlich einen etwas schwereren Stand.
"Ich glaube, dass ich diese gesetzliche Ansage so wörtlich genommen habe, war ich schon von Anfang an der strenger Bewertende. Natürlich orientiert man sich daran, was in der Verordnung steht. So und die Entwicklung ging dann schon immer mehr dahin, dass derjenige, der viele Studenten in seiner Gruppe hat, irgendwie anscheinend als der bessere gilt, derjenige der einen besseren Notenspiegel vorweisen kann, es anscheinend den Studenten besser vermitteln kann, weil die ja mit einem besseren Ergebnis bestehen."


Die besseren Noten seien insofern auch kein Indikator für bessere Leistungen, sondern das Ergebnis willkürlicher Benotung, unterstützt von der Bürokratie der Universitäten, für die bessere Abschlüsse höheres Renommee und mehr Geld bedeuten würden. Auch die Kultusministerien der Länder verwiesen ja gerne auf ein höheres Niveau.
Der Student der Betriebswirtschaft, Marten Pukrop, engagiert sich im Asta, also in der studentischen Interessenvertretung. Die Karriere ist ihm wichtig, nach dem Bachelor in Betriebswirtschaft soll noch der Master in IT Management folgen. Trotz seiner klaren Leistungs- und Wettbewerbsorientierung wundert er sich über die Lehrpraxis bei Professor Werner Müller:
"Es gilt die akademische Freiheit. Und die ist auch sehr gut und sehr wichtig. Das Problem ist, dass aus der akademischen Freiheit oft eine Narrenfreiheit wird. Bei manchen Professoren hat man das Gefühl, die machen, was sie wollen. Das ist, glaube ich auch, das Problem bei dem Herrn Müller der Fall… so wie ich das mitbekommen habe. Da geht nicht darum, dass man wirklich überprüft, kann der Student was, sondern man hat sich eine Durchfallquote festgesetzt. Und stellt auch kein sinnvollen Fragen, aber das Problem ist, wenn man was dagegen sagt, dann kommt halt: akademische Freiheit. Und dann können wir wenig machen."
Wobei Werner Müller der Rede von "Durchfallquoten" vehement widerspricht.
Marten Pukrop sieht den Ausweg vor allem in einer grundlegenden Änderung des Zugangs zu den Unis.
"Wenn man an dem Hochschulwesen was verbessern möchte, wenn man bessere Absolventen haben möchte, dann funktioniert das nicht einfach indem man sagt, wir machen alle Klausuren schwerer... Ich glaube, was man verbessern sollte, wäre direkt am Anfang ein Zulassungsverfahren. Nicht einfach nur nach der Abiturnote zuzulassen, sondern da entsprechende Tests aufzubauen, wie das in Medizin auch der Fall ist, weil einfach die allgemeine Hochschulreife wenig darüber aussagt, wie qualifiziert man jetzt für einen bestimmten Studiengang ist."
Der Präsident der Hochschule, Professor Gerhard Muth ist seit 24 Jahren an der Uni Mainz:
Klausur in der Ludwig-Maximilians-Universität in München. 
Klausur in der Ludwig-Maximilians-Universität in München. © picture alliance/dpa/Foto: Ulrich Baumgarten
"Ich hab das natürlich jetzt nicht statistisch untersucht, aber rein gefühlsmäßig, würde ich nicht sagen, dass sich das Notenniveau über diese mehr als zwanzig Jahre nennenswert verändert hat."

Gute Karrierechancen von Absolventen

Beim Notendurchschnitt gibt es eine Differenz zwischen den Studiengängen mit wirtschaftlicher, technischer Ausrichtung und den künstlerisch-gestaltenden Studiengängen.
Muth: "Ich sag mal so, da liegt der Notenschnitt etwa so um die zwei, während in anderen Fächern der Notenschnitt so zwischen 2 und 3 liegt."
Professor Muth ist sich sicher, es gibt tatsächlich weniger schlechte Studenten als früher. Ein Notendurchschnitt über 3 sei eher selten. Hauptgrund sei die bessere Betreuung:
"Das nennt sich Studienerfolgsmanagement, das heißt, wir monitoren das Verhalten der Studierenden, um möglichst frühzeitig – eine Form von Frühwarnsystem – sich um die Studierenden kümmern zu können. Und dann ihnen anzubieten, zum Beispiel eine Studienberatung oder anzubieten spezielle Vorbereitung auf Klausuren. Wir machen beispielsweise ein anderes Projekt, das nennt sich Tutorien in kritischen Fächern."
Einen Indikator dafür, dass die Leitungen nicht schwächer geworden seien, sieht Muth in den guten Karrierechancen seiner Absolventen.
"Generell kann man, glaub ich, sagen, dass wir hier, Gott sei Dank, mit unserem Standort, auch mit unserem Ausbildungsprofil, kaum Probleme haben, unsere Studenten im Arbeitsmarkt unterzubringen. Ganz im Gegenteil. Wir haben teilweise Fächer, da kriegen die Studierenden schon auf der Hörsaal Bank schon Angebote aus der Praxis beispielsweise… Geoinformatik und Vermessung ist ein Fach oder auch im Bereich Wirtschaftsrecht. Wir haben es auch teilweise im Ingenieurbereich."

Erfahrungen der Industrie- und Handelskammer

Christina Mersch: "Die Abbruchquoten sind hoch. Nahezu jeder dritte Bachelor Student bricht sein Studium ab. Was natürlich eine Erfahrung für den jungen Menschen ist, die sehr ärgerlich und vielleicht auch frustrierend ist."
Christina Mersch, Bereichsleiterin Ausbildung, Deutsche Industrie- und Handelskammer, Zentrale Berlin.
"Viele von denen landen dann in einer Ausbildung und auch sehr bewusst, dass sie sagen: Ich möchte jetzt lieber eine Ausbildung machen, als nochmal ein zweites Bachelorstudium zu beginnen. Mehr als vier von zehn Studienaussteigern landen dann in der Ausbildung. Die Unternehmen berichten, dass die jungen Menschen sehr zielstrebig dann auch sind. Sie haben dieses Erlebnis gehabt, zu scheitern, sich umorientieren zu müssen und dann eine sehr klare und bewusste Entscheidung getroffen, in die Ausbildung zu gehen.
Seit 2009 gibt es in jedem Jahrgang mehr Abiturienten als Auszubildende. 2017 standen 1,33 Millionen Azubis schon 2,75 Millionen Studenten gegenüber. Das Abitur ist kein Elitebildungsgang mehr. Daraus zu folgern, dass sich an den Universitäten verstärkt Mittelmaß und Unvermögen ballen, sei aber falsch, sagt Christiane Konegen-Grenier, Bildungsexpertin des Instituts der Deutschen Wirtschaft:
"Nach meiner Beobachtung gibt es keine belastbaren Fakten darüber, dass sich die Leistungsfähigkeit von jungen Leuten in den letzten 10, 20 Jahren verschlechtert hätte. Der Wissenschaftsrat hat ja die Entwicklung der Noten untersucht. Und wir haben für das Jahr 2000 in den Hochschulen eine Durchschnittsnote von 2,17. Und im Jahr 2011 eine Durchschnittsnote von 2,07. Bei dieser kleinen Verschiebung kann man überhaupt nicht von Noteninflation sprechen. Aber der Wissenschaftsrat sagt auch in der Analyse dieser Notenverbesserung, dass daraus nicht der Schluss gezogen werden kann, dass die Absolventen und Absolventinnen nun mit weniger Aufwand zu besseren Noten kommen und weniger gute Kompetenzprofile mitbringen."


Eine Einschätzung, die die Expertin des arbeitgebernahen Instituts vom Marktgeschehen bestätigt sieht.
Christiane Konegen-Grenier: "Was die heutige Frage angeht, haben wir zu viele Akademiker, bzw. studieren zu viele. Wir können aus den Indikatoren, die wir beobachten, keine Anhaltspunkte finden, dass es in irgendeiner Weise ein Überangebot von jungen Leuten mit Hochschulabschlüssen gibt. Wir sehen die Arbeitslosenquote, die ist historisch niedrig. Wir sehen das Anspruchsniveau der ausgeübten Tätigkeiten. Auch da hat sich nichts verschoben und verändert. Wir sehen die erreichten Positionen, auch da gibt es keine Hinweise darauf, dass es in irgendeiner Weise jetzt zu viele junge Hochschulabsolventen und Absolventinnen geben könnte."
Das bestätigt auch Professor Dr. Gerd Grözinger, Bildungsforscher an der Europa Universität Flensburg.
"Das sehen wir überhaupt nicht. Die Bildungsrenditen sind hoch. Und sie sind auch nicht im Niedergang begriffen."
Gute Bildungsabschlüsse führen immer noch zu beruflichen Karrieren. Bei einer Noteninflation müssten ja auch die Bildungsrenditen, also das was man hinterher mit seiner Investition in Bildung erzielt, sinken.
Im Zentrum der Debatte um die sogenannte Noteninflation steht die Frage nach der neuen Qualität des Abiturs, eines Abschluss der früher einer bürgerlichen Elite vorbehalten war und heute dabei ist Allgemeingut zu werden. Werner Müller von der Uni Mainz sieht auch das kritisch:
"Das bedeutet aber, wenn sie beispielsweise, sagen wir mal 25 Prozent eines Jahrgangs an die Hochschulen schicken, dann sind das wohl die 25 Prozent Leistungsfähigsten. Wenn sie jetzt aber 55 Prozent schicken, dann sind die 55 Prozent doch eher, zumindest diese zusätzlichen, so ein Mittelmaß. Das ist ja gar nichts Schlechtes. Aber das bedeutet, hier ist nicht eine Hochschule, sondern eher eine Mittelschule wahrscheinlich für diese Gruppe adäquater. Das bedeutet dann: Diejenigen, die studieren, gehen nicht mehr in die Lehre. Wir haben Betriebswirtschaftslehre und Internationale BWL zusammen, dann sind über zehn Prozent aller Studenten Betriebswirte. Ich meine, 90 Prozent von denen können auch gerne eine kaufmännische Lehre machen."
Und der Facharbeitermangel in den Unternehmen, so glaubt Professor Müller, habe auch damit zu tun, dass die Mehrheit eines Jahrgangs heute das Abitur ablegt.

Konegen-Grenier: "Ja, das Abitur hat natürlich heute den Wert einer Drehscheibe für verschiedene Bildungskarrieren, das kann die Hochschule sein, das kann aber auch die Berufsausbildung sein. Der Anteil der Abiturienten ist in den letzten zehn Jahren stark gestiegen. Die Möglichkeit, eine allgemeine Hochschulzugangsberechtigung zu erwerben, sind ja auch ausgeweitet worden. Heutzutage hat man die allgemeine Hochschulzugangsberechtigung, wenn man einen Meisterbrief gemacht hat, wenn man einen Fachwirt Ausbildung gemacht hat. Das war vor vielen Jahren nicht so. Insgesamt hat sich das ganze Spektrum, was eine Hochschulzugangsberechtigung ist, erweitert. Das ist denke ich, auch eine gute Sache."
Blick in die Aula 2 im Hauptgebäude der Universität zu Köln.
Es gebe keine Anhaltspunkte, dass es ein Überangebot von jungen Leuten mit Hochschulabschlüssen gibt, sagt die Wissenschaftlerin Christiane Konegen-Grenier.© imago/Future Image/C. Hardt

Bessere Pädagogik als treibende Kraft

"Fangen wir mal damit an, dass wir den Schülerinnen und Schülern sehr viel mehr Möglichkeiten einräumen, Fächer zu wählen und Schwerpunkte zu setzen."
Alexander Lorz, hessischer Kultusminister und Vorsitzender der Kultusministerkonferenz, sieht tatsächlich eine bessere Pädagogik als treibende Kraft hinter den messbar besser gewordenen Schulnoten. Wobei der große Sprung in den 70er stattfand. Im letzten Jahrzehnt habe sich der Abiturdurchschnitt hingegen nur um wenige Zehntel Prozent verbessert.
"Klar, wenn ich allen einen bestimmten Kanon an Fächern vorgebe, egal wo die individuellen Talente und Begabungen liegen, dann kriege ich natürlich tendenziell etwas schlechtere Ergebnisse raus, als wenn ich Schülern die Möglichkeit gebe, eben auch Fächer zu gewichten – ihren Neigungen entsprechend. Aber das ist doch, was wir wollen. Wir wollen die individuellen Talente aus den Schülern heraus kitzeln."
Mündliche Leistungen haben heute einen größeren Wert. Es wird weniger auswendig gelernt und mehr auf sogenannte Kompetenzen geachtet. Und diese Ansprüche können, so Alexander Lorz, immer mehr Schülerinnen und Schüler erfüllen:
"Das ist eine Qualifikation, wie ich sie heute in Ausbildung und Beruf sehr brauche. Es geht natürlich, wenn sie neue Methoden, neue Kompetenzorientierungen, beispielsweise neue Präsentationsformen, all das einführen, geht das natürlich auf Kosten von etwas, was früher eine größere Bedeutung hatte."
Beim Ballett, da herrscht eine besondere Notenperspektive. Hier dominiert das Spektrum zwischen 2 und 3. Die Note 1, vollständige Perfektion, sie erkennen die Lehrenden sehr selten.
Der Leiter der Ballettschule, Ralf Stabel, glaubt nicht an die Rede von der Noteninflation. Seine Schülerschaft erreicht einen sehr guten Abiturdurchschnitt von 2,1. Aber das sei kein Bildungsniedergang, sondern eben doch eine Erfolgsstory
"Ich glaube, das ist so ein Generationengeklage. Manche Menschen, Lehrer denken: Früher war alles anspruchsvoller. Ich denke mir, dass wir die Methoden des Unterrichtens geändert haben. Vielleicht ist es wirklich gut, dass wir nicht mehr im Sinne des Nürnberger Trichters oben Wissen rein schütten und dann nach Prozenten bewerten, wie viel kommt unten bei den Schülern an, sondern wir versuchen schon, Methoden und Kompetenzen zu vermitteln.
Es gibt viel mehr Eigenverantwortung, und das ist für die spätere Arbeit viel entscheidender, als wenn sie eine Formel auswendig gelernt haben. Mehr können als Wissen! Einem Laien würde ich das erklären mit dem Spruch von Albert Einstein: ´Phantasie ist wichtiger als Wissen, denn Wissen ist begrenzt.` Ich denke, wir sollten froh sein über jeden jungen Menschen, der seine Lebenszeit in die Hand nimmt und Abitur macht."
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