Serie "Tagebuch aus Aleppo" - Teil 2

"Ich lebe mit Liebe und Angst“

Ein kaputtes, blaues Auto steht am 10. Februar 2013 in Aleppo, Syien. Die Städte liegen in Trümmern. Die Bürger kämpfen für ihre Rechte und gegen den totalen Staat.
Zerstörung in Aleppo: "Ich fühle mich wie erdrückt", schreibt Mahmoud. © imago / PuzzlePix
Von Julia Tieke · 18.12.2015
Die Proteste in Syrien begannen friedlich - inzwischen herrscht Krieg. Die achtteilige Serie "Tagebuch aus Aleppo" des syrischen Exilsenders "Radio Rooh" und Julia Tieke fangen persönliche Berichte junger Syrer aus der umkämpften Stadt ein: Drei junge Menschen aus Aleppo erzählen von ihrem Alltag im inzwischen über drei Jahre anhaltenden Krieg.
Fajer: "Früher hatte ich einen richtigen Alltag, mit Universität und so, tausend Dinge. Ja, ich hatte mal einen Alltag."
In Berlin sitze ich am Schreibtisch und schicke Fragen nach Gaziantep, in der Südtürkei. Dort lebt Haytham, der den kleinen syrischen Sender Radio Rooh betreibt. Immer wieder geht er auch in seine Heimatstadt Aleppo, mitten ins Kriegsgebiet. Dorthin nimmt er meine Fragen mit.
Mahmoud: "Seit der Krise hat sich alles verändert, alles. Ich wusste vorher nicht, wie man Schrauben auch nur anfasst, aber jetzt habe ich gelernt mit Elektrizität umzugehen, mit Wasser, ich repariere Akkus und alles. Gott sei Dank! Ich bin dankbar für das, was ich jetzt kann."
Hast Du einen Alltag oder ist jeder Tag verschieden? Wie sieht Dein Alltag aus? Langweilig, voller Angst? Normal? Wie fängst Du Deinen Tag an und wie beendest Du ihn?
Fajer: "Mein Alltag – in der jetzigen Krise gibt's keinen Alltag, keinen richtigen Plan. Ich besorge vielleicht Wasser und Brot, und frage meine Mutter: 'Was brauchst du?' bevor ich das Haus verlasse."
Mahmoud: "Vor der Krise war alles eine einzige Routine. Die Arbeit, Schlafen, Essen, eine Stunde am Tag mit meiner Familie. So war's. Hat sich tot angefühlt."
Sobhi: "Mein Alltag ist eine Mischung aus Angst und Langeweile und Schönheit, allem also, was in einem Leben möglich ist.
Jeder Morgen fängt mit Hoffnung an, die Hoffnung selbst ist zu einer Routine für uns geworden. Ich wache auf, bin hoffnungsvoll, dass es heute besser ist, realisiere, dass ich mich wieder für irgendwas anstellen muss, und damit zurückkehre in den Krieg. Ich verlasse das Haus unter Gefahren und hoffe, dass es meiner Familie gut geht, wenn ich wiederkomme. Dass niemand verletzt wurde."
Mahmoud: "Seit der Krise fühle ich mich endgültig wie ein toter Mensch. Alles ist geschlossen, es gibt keine Arbeit, kein Geld, und ich fühle mich erdrückt."
Fajer: "In der Krise gibt es nicht viel zu tun. Kein Strom, früh schlafen gehen - Morgens wache ich auf und geh zu Abu Zakkour, kaufe Brot, frühstücke, wecke meinen Bruder auf, damit er zur Arbeit geht."
Abends trinken wir Tee auf dem Hausdach, aber das geht nicht in Ruhe, weil dann die Bombardierungen beginnen und wir uns verstecken und den Kämpfen zugucken. Unser Haus befindet sich in der Kampfzone.
Manchmal überlege ich, was ich am nächsten Tag tun werde, und kann nicht schlafen. Aber eigentlich denke ich an nichts, kann an nichts denken. Für mich ist alles tot."
Mahmoud: "Vor der Krise habe ich nicht gewusst, was der Sinn des Lebens ist, aber jetzt habe ich das Gefühl, ihn zu kennen.
In der Krise sind wir ängstlich geworden, wir wissen nicht, wann wir sterben. Aber das ist auch eine Freude. Weil ich fühle, was der Sinn von wahrer Liebe ist. Wenn jemand, den ich mag, irgendwohin geht, frage ich mich immer, ob er getötet oder verletzt wird.
Ich lebe mit Liebe und Angst."
Sobhi: "Zu meinem Alltag gehört es auch, zur Universität und zur Arbeit zu gehen. Als junger, alleinstehender Mann muss ich arbeiten und studieren, auch in der Krise."
Fajer: "An einem Abend habe ich ein Fest vorbereitet und meine Freunde eingeladen, für den nächsten Tag. Meine Familie versteckte sich bei den Nachbarn, und meine Eltern sagten, ich solle auch kommen. 'Du wirst morgen nichts essen, Du wirst sterben', meinten sie. Aber ich habe einfach weiter gemacht und den Fisch gewürzt.
Ich war alleine mit meiner Katze, Tommy. Es war der schlimmste Tag in unserer Gegend, mit Bombenabwürfen, einem Bombeneinschlag. Alles Glas zerbrach, und ich habe einfach die Vorbereitungen fortgesetzt. Ich habe dann aber doch noch bei den Nachbarn übernachtet.
Am nächsten Tag hatten alle Angst, waren in Panik, weil es so viele Verletzte gab.
Aber - das Fest war ein Erfolg, und ich bin nicht gestorben."

Serie "Tagebuch aus Aleppo" - in acht Teilen
Drei junge Menschen aus Aleppo und Umgebung beschreiben ihren Alltag in Ton und Text. Der syrische Radiokollege Haytham Kabbani des Exilsenders "Radio Rooh" mit Sitz im türkischen Gaziantep hat das Material gesammelt und an die Autorin Julia Tieke geschickt.

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