Serie "Mein Freund im Todestrakt" - Teil 1

Das erste Treffen

06:33 Minuten
Einfahrt des Gefängnisses von San Quentin
Das Gefängnis in San Quentin, wie es sich Besuchern bei der Ankunft darbietet. Hier besucht Arndt Peltner den Insassen Reno. © picture alliance/AP/Eric Risberg
Von Arndt Peltner  · 30.03.2020
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Vor 25 Jahren trifft der junge deutsche Reporter Arndt auf Reno, einen zum Tode verurteilten Häftling in San Quentin. Außerhalb der Gefängnismauern wären sich beide wohl niemals begegnet. Die Geschichte einer ungleichen Freundschaft.
Ein Brief liegt in meinem Briefkasten, handgeschrieben. Es ist Herbst 1994, ich bin damals 26 Jahre alt und komme gerade von der Arbeit nach Hause. Ich nehme den Brief aus dem Kasten, gehe in den vierten Stock, setze mich an den Küchentisch und öffne ihn:
"Hallo Arndt, vielen Dank für Deinen Brief, über den ich mich gefreut habe."

Der erste Schritt - ein Brief

Der Brief kommt aus dem Todestrakt von San Quentin, aus dem ältesten Staatsgefängnis Kaliforniens. Geschrieben hat ihn Reno, Häftlingsnummer D-63100, ein Todeskandidat, verurteilt wegen dreifachen Mordes.
"Ich bin seit 1980 hier in San Quentin. Kein guter Ort, aber ich versuche das Beste aus der Situation zu machen"
Reno und ich, wir kennen uns noch nicht. Ich hatte ihm einige Wochen zuvor aus Nürnberg geschrieben. Ich war junger Journalist, hatte ein Praktikum in San Francisco gemacht und dort auch eine Organisation besucht, die sich für die Abschaffung der Todesstrafe einsetzt. Sie hat mir den Kontakt zu Reno vermittelt.
Ich habe auf eine Antwort gehofft, aber nicht wirklich daran geglaubt. Nun halte ich ein Blatt Papier in der Hand, das aus einer Todeszelle in San Quentin stammt, geschrieben und abgeschickt von einem zum Tode Verurteilten – Reno.

Ein sagenumwobener Ort

Warum ich Reno damals überhaupt schreibe, hat mehrere Gründe. Das Thema "Todesstrafe" interessiert mich, San Quentin kenne ich nur aus der Ferne, ich habe das Gefängnis bei meinem Aufenthalt nur von außen gesehen. Doch spätestens seit dem Konzert von Johnny Cash 1969 ist San Quentin legendär, ein sagenumwobener Ort, an dem menschliche Grausamkeit und der Kampf der Gefangenen um Würde aufeinander treffen. Dass Reno drei Minderjährige erschossen haben soll, wusste ich damals noch nicht.
Reno aus San Quentin und ich, der junge Journalist aus Nürnberg, schreiben uns zwei Jahre lang Briefe. Reno ist neugierig und stellt viele Fragen. So nimmt er an meinem, für ihn so fremden Leben teil:
"Was Du über Nürnberg schreibst klingt interessant. Könntest Du mir ein paar Bilder von der Burg und dem alten Teil der Stadt schicken?"

Blau ist die Farbe der Häftlinge

Im August 1996 ziehe ich um nach San Francisco, nicht wegen Reno, sondern der Arbeit wegen. Aber er freut sich, denn nun kann ich ihn besuchen. Er schickt mir ein Besuchsformular zu, und an einem Samstagmorgen fahre ich dann über die Golden Gate Bridge um die Bay herum nach San Quentin, stelle mein Auto auf dem Parkplatz ab.
Besuche sind da noch vergleichsweise einfach. Ich stelle mich einfach in die Reihe und warte. Außer mir sind fast nur Frauen da: High Heels, knielange Röcke, etwas aufgedonnert, gerade noch zulässig für den Gefängnisbetrieb. Blue Jeans und grüne Hosen sind nicht erlaubt, das sind die Farben der Häftlinge oder der Wärter. Nur Ein-Dollarnoten darf ich mit hinein nehmen, Frauen dürfen keinerlei Drähte im BH haben.
Ich bekomme einen Leuchtstempel auf den Unterarm gedrückt, danach geht es durch einen Metalldetektor, dann mehrere Hundert Meter entlang der Bay zum eigentlichen Gefängnisgebäude und zum Besucherraum des Eastblocks. Dort ist die Death Row, der Todestrakt, untergebracht. Direkt neben dem Besucherraum der Eingang zur Hinrichtungskammer.

Man wird kontrolliert, begleitet, überwacht

Als Besucher darf ich keine Aufnahmen machen. Überhaupt ist es in San Quentin nur bedingt möglich, journalistisch zu arbeiten. Du wirst kontrolliert, begleitet, überwacht. Zugang zum Todestrakt gibt es nur mit Zustimmung aus dem Justizministerium, und die gibt es nicht oft, schon gar nicht für Reporter aus dem Ausland.
Grobkörnige Polaroidaufnahme des Insassen Reno in Gefägniskleidung und des Journalisten Arndt Peltner in legerer Alltagskleidung vor den hellen Gitterstäben eines Gefängnissicherheitstrakts.
Erinnerungsstück auf Polaroid: Reno und Arndt freunden sich an.© Foto: privat
Der Besucherraum erinnert an den Warteraum einer Busstation: die Wände kahl, grelles Neonlicht, blaue Plastikstühle. Einige Automaten mit Getränken, Mikrowellenessen, Popcorn und Chips. 1996 können Besucher und Häftling sich noch frei in diesem Raum bewegen. Ich setze mich auf einen Stuhl und warte auf Reno. Gefangene in Blau spazieren mit ihren Besuchern im Kreis um mich herum.
Ich erkenne den "Nightstalker", Richard Ramirez, der Mitte der 80er-Jahre zahlreiche Frauen vergewaltigt und ermordet hatte. Sein Gesicht kenne ich aus der Zeitung. Jetzt dreht er lächelnd mit einer Frau im Arm seine Runde. Ein paar Meter von mir entfernt sitzt Tookie Williams, einer der Gründer der Crips Straßengang. Noch ein Schwerverbrecher.

Cola und Popcorn

Und dann wird Reno aus dem hinteren Bereich des Gefängnisses in den Raum geführt – ich habe kein Bild von ihm, aber ich erkenne ihn sofort. Er trägt Bart, Brille und hat diesen suchenden Blick. Auch das Alter stimmt. Eine kurze Umarmung, ein Hallo, dann gehen wir zu den Automaten. Reno will Coca Cola und Popcorn. Ich frage ihn nach seiner Lebenswelt – die Antwort habe ich später bei einem Telefonat aufgezeichnet. Das ist erlaubt, wird aber überwacht.
"Wie soll ich das beschreiben, es ist eine 1 Meter 50 mal 2 Meter 70 grosse Zelle. Es gibt einen Bettrahmen aus Stahl, den ich als Tisch benutze, eine dünne Matratze auf dem Boden, auf der ich schlafe. Eine Toilette, ein Waschbecken. Ich habe meinen Fernseher hier, alles was ich besitze ist hier. Es gibt nicht viel Platz, aber man gewöhnt sich daran."
Als wir beide uns 1996 zum ersten Mal begegnen, ist das für mich mein erster Besuch in einem amerikanischen Gefängnis. Reno lebt da bereits seit über 16 Jahren im Todestrakt von San Quentin. Er hat sich eingerichtet. Kontakte nach draußen hat er nicht mehr. Langsam wird mir klar, auf was ich mich da einlasse.