Serie: "Gestalten!"

Die Ästhetik des Kabelbinders

05:31 Minuten
Ein weißer Kabelbinder hält einen verrosteten Laternenpfahl und einen silberfarbenen Metallpfosten zusammen.
Ein schmaler Streifen Kunststoff, der viel aushält: der Kabelbinder © Deutschlandradio/ Marietta Schwarz
Von Marietta Schwarz · 28.05.2019
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Ihr Umsatz soll nach dem Kinoerfolg von "50 Shades of Grey" gestiegen sein und zuletzt haben sie im Europawahlkampf zahlreiche Wahlplakate an Laternenpfosten gehalten: Kabelbinder. Was können sie noch? Ein Besuch beim weltweit führenden Hersteller.
In Tornesch, Kreis Pinneberg, hat wohl jeder eine Kabelbinder-Geschichte drauf. Zum Beispiel die vom Europapokalspiel, die der Taxifahrer erzählt: Das Tornetz riss, das Spiel wurde unterbrochen, und das Tor kurzerhand mit Kabelbindern repariert.
Kabelbinder kommen überall zum Einsatz: Baustellenabsperrungen werden mit ihnen befestigt, Wahlplakate an Laternenpfähle gebunden, Waschmaschinenschläuche an die Maschine geheftet. Manche tragen sie auch als modisches Armband. Angeblich soll der Umsatz nach dem Kinostart von "50 Shades of Grey" gestiegen sein.

Ein Auto ist voller Kabelbinder

James Hill ist Marketingchef der Firma Hellermann Tyton und reicht mir eine rote, viel zu große Sicherheitsweste. Die soll ich anziehen, während er schon mal einen Einführungsvortrag hält. Auf dem Tisch liegen hunderte unterschiedliche Kabelbinder, die schönsten stecke ich ein.
Das Unternehmen Hellermann Tyton ist seit Jahren auf Wachstumskurs. Es stellt Kabelbinder mit Spreizanker her, Kabelbinder mit Schweißbolzenhalter, Kabelbinder mit noch komplizierteren Namen. Viele wurden für Spezialanwendungen in der Autoindustrie entwickelt. Sie landen dann in der Karosserie, um die Elektronik zusammenzuhalten. Kabel-Binder halt.
"Früher", sagt James Hill, während ein Fließband schwarze Binder vor mir ausspuckt, "haben wir drei Euro in einem Auto verbaut. Heute sind es bis zur 150 Euro!" Im Prinzip sei das eine Gelddruckmaschine. 800 Meter Produktionsstraße, im Bürotrakt hängen statt Bildern die Eingeweide von Autos an den Wänden.

Eine Verzahnung im Kopfbereich

- "Muss man Autoliebhaber sein, um hier zu arbeiten?"
- "Überhaupt nicht. Ich bin Fahrradfahrer, ich fahre gerne Fahrrad. Man muss Spaß haben, sich mit Kunststoff abzugeben und sich auf diesen tollen Werkstoff einzulassen."
Hagen Spieß ist Maschinenbauingenieur und wird in den folgenden 50 Minuten viel über Zugkräfte, Einschlaufrichtung und Zunge, Zahn und Kopf sprechen. Denn so ein Kabelbinder ist natürlich viel mehr als ein Kunststoffband mit Verdickung am Ende.
"Das Kabelband hat eine Verzahnung, die muss ja im Kopfbereich gefasst werden, und das macht eben eine Zunge, die meistens zwei oder drei Zähne hat."
Kabelbinder unterschiedlicher Farben und Größen liegen auf einem losen Stapel.
Fast wie ein Gemälde: eine bunte Sammlung Kabelbinder© Deutschlandradio/ Marietta Schwarz
Das Prinzip der Selbsthemmnis, erklärt Herr Spieß, drückt auf einen Knopf - und auf der Wand erscheint nun eine Schemazeichnung: Der lange Teil des Kabelbinders sieht eigentlich aus wie eine Bahnschiene. Allerdings hat die Riffelung eine Richtung, damit die Zunge dann einrasten kann: "Und wenn man das dann einfädelt und daran zieht, dann hört man auch richtig schön, wie die Zähne entsprechend greifen. Und das war's!"
Was die Schema-Zeichnung auch zeigt: Im Binder-Kopf geht's richtig ab, das ist ein kleines technisches Wunderwerk. Denn die flexible Befestigung der Zunge muss unglaublich viel aushalten: "Die gesamten Kräfte werden im Kopf gefangen."

Kunststoff hält Hitze und Kälte aus, Trockenheit und Nässe

Mit einem anderen Werkstoff würde das nie funktionieren. Deshalb wurde der Kabelbinder just in dem Moment erfunden, als Kunststoff – Polyamid - im Begriff war, die Welt zu erobern: 1954. Kunststoff, unter Nachhaltigkeitsaspekten in Verruf geraten, hat halt hervorragende Eigenschaften: Hält Hitze und Kälte aus, Trockenheit und Nässe. Und – hier wird’s fast philosophisch: "Grundsätzlich baut der Kunststoff ja Stress ab. Kunststoff relaxiert."
Dehnt sich, passt sich an: "Das ist das Gute am Kabelbinder, das ist so eine Art Selbstheilung, so dass das Material nicht permanent unter der höchsten Belastung steht, und dadurch ist es auch fähig, die nächste Belastung in der Zukunft wieder aufzunehmen."
Na dann! Können wir uns vom Kabelbinder ja sogar was abgucken!
"Und sehen Sie mal", sagt James Hill, während sein Kollege in der Grabbelkiste nach dem Lieblingsbinder sucht, "was der mit den Kabeln an seinem Rechner gemacht hat!": "Computer, Fernseher, Monitor - da laufen immer noch verdammt viele Leitungen, und die binden wir herkömmlicherweise mit Kabelbindern zusammen, die wieder zu öffnen sind."

- "Also, ich mache das nicht, aber vielleicht mache ich das ab heute. Habe ja jetzt auch viele."
- "Wir können Ihnen auch mit der Ästhetik helfen...- Farbe!"
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