Sergio Pirozzi in Amatrice

Bürgermeister eines Ortes, den es nicht mehr gibt

Blick auf den komplett zerstörten Ort Amatrice südlichöstlich von Norcia. Am 30. Oktober 2016 hatte es in Mittelitalien 6 km nördlich von Norcia ein Erdbeben der Stärke 6.6 gegeben.
In Trümmern: Amatrice seit dem Erdbeben © picture alliance / dpa / Massimo Percossi
Von Kirstin Hausen  · 03.06.2017
Sergio Pirozzi ist Bürgermeister der italienischen Stadt Amatrice. Er ist bekannt in ganz Italien: Nach dem schweren Erdbeben, das die Stadt verheerte, sagte er "Unseren Ort gibt es nicht mehr" - eine Aussage, die am folgenden Tag alle Titelseiten überschrieb. Er ist entschlossen, Amatrice wieder aufzubauen - und dabei hilft ihm auch sein früherer Job als Fußballtrainer.
Das Gemeindehaus von Amatrice liegt in Trümmern. Der Bürgermeister hat sein Büro jetzt in einem aus Fertigbauteilen zusammen gezimmerten Flachbau.
"Mein Leben hat sich verändert: Es gibt ein Vorher und ein Nachher."
Groß und kräftig ist er. Dunkle Augen. Ein gutaussehender Mann mit Charisma.
"Ich habe als Trainer von Amatrice angefangen und weiß, was es heißt, sich abzumühen, ich habe mich hochgearbeitet bis in die Zweite Liga. Dann bin ich Bürgermeister geworden: Von sieben bis halb 12 war ich für meine Gemeinde da, dann bin ich zum Fussballplatz gefahren und habe meine Mannschaft trainiert. Heute ist alles anders. Meinen Beruf habe ich an den Nagel gehängt, ich hätte nicht weiter trainieren können. Keine Ahnung, ob ich ein guter Bürgermeister bin, aber sicher wäre ich ein schlechter Trainer."
Sprechstunde bei Amatrices Bürgermeister Sergio Pirozzi
Sprechstunde bei Amatrices Bürgermeister Sergio Pirozzi© Deutschlandradio/ Kirsten Hausen
Seit dem 24. August 2016 kennt ihn ganz Italien. Seine Durchsage an Präfektur und Feuerwehr kurz nach dem Beben stand am nächsten Tag in allen Zeitungen. Il paese non cè più, unseren Ort gibt es nicht mehr.
"Ich würde die Berühmtheit, die ich erreicht habe, sofort eintauschen, um das Erdbeben ungeschehen zu machen. Ich bin der Bürgermeister und mache meinen Job. Jeder andere würde das auch machen."
Ob mit so viel Verve wie Pirozzi sei dahingestellt.

Rund um den ehemaligen Stadtkern wird gearbeitet

"Wie bei jedem Amt braucht es Leidenschaft. Und du musst mit dir im Reinen sein, weil der Druck enorm ist, dem du ausgesetzt bist. Meine Erfahrungen als Fussballtrainer helfen mir sehr, weil ich gelernt habe, unter Stress zu agieren."
Auf den Baustellen rund um den zerstörten Stadtkern von Amatrice wird gearbeitet. Nicht frenetisch, aber kontinuierlich. Fertighäuser entstehen. Dünne Wände in Orange, braune Türen und Fensterrahmen, eine kleine Veranda. In Gruppen von 15, 24 oder 36 sollen die Häuschen nahe der einstigen Siedlungen stehen. Bürgermeister Sergio Pirozzi wollte es so.
"Hätten wir alle Bewohner der verschiedenen Ortsteile auf zwei Riesenflächen untergebracht, wären sie entwurzelt worden und hätten ihre Identität verloren. In meinem Modell aber bleiben sie nahe ihrer Ortsteile und erleben den Wiederaufbau mit, überwachen ihn."
Vom Wiederaufbau ist in Amatrice derzeit noch nichts zu sehen. Noch liegen dort, wo früher Häuser standen, nur Trümmer.
Der Bürgermeister schaut gequält.
"Die Region Latium ist dafür zuständig und das macht die Sache kompliziert. Wir von der Gemeinde haben schon am 4. September, also zehn Tage nach dem Erdbeben, einen Ort gefunden für die Lagerung der Trümmer und hatten auch die Genehmigung von der Gemeindeverwaltung dort. Ich habe die zuständigen Stellen um die Erlaubnis gebeten, mit Firmen über das Räumen und den Abtransport der Trümmer zu verhandeln, aber keine Antwort bekommen. Das Problem ist, dass ich von den Carabinieri verhaftet worden wäre, wenn ich das auf eigene Faust in Auftrag gegeben hätte."

"Zu groß ist der Schmerz"

Sergio Pirozzi kämpft. Gegen die Bürokratie und für seine Gemeinde.
"Wir schaffen das, wenn wir uns als Mannschaft fühlen, wo der eine für den anderen eintritt und nicht jeder nur an sich denkt. Die materiellen Schäden lassen sich beheben, das dauert, aber das geht. Der wirkliche Kampf ist der um die Gemeinschaft. Und hier meldet sich der Fussballtrainer in mir zu Wort, der sagt: Meine Mannschaft steht im Moment stark unter Druck."
Auch der Bürgermeister steht unter Druck. Er ganz besonders. Sergio Pirozzi lässt es sich kaum anmerken, wirkt entschlossen und zupackend. Aber wenn er kurz die Augen schliesst und an Amatrice vor dem Erdbeben denkt, wird sein Hals eng. Die zona rossa, das abgesperrte Trümmerfeld, das früher einmal der historische Ortskern war, hat er seit neun Monaten nicht mehr betreten.
"Am 28. August bin ich mit dem Verteidigungsminister hineingegangen, und mir wurde fast schwarz vor Augen. Zu groß war der Schmerz, die Erinnerung an Freunde, die nicht mehr da sind. Solange die Trümmer noch da sind, setze ich keinen Fuß mehr dort hin."
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