Sendlers Liste

Von Agnes Steinbauer · 12.02.2010
98 Jahre ist Irena Sendler alt - doch an das Warschauer Ghetto kann sie sich noch genauestens erinnern. Damals rettete sie 2500 jüdischen Kindern das Leben. "Einem Ertrinkenden reicht man die Hand", sagt sie. Berliner Schüler haben die kleine Frau mit dem großen Charakter in Warschau besucht.
"Krieg war etwas Schreckliches, das sollte eine Warnung sein und ich freue mich sehr, dass meine Person und Geschichte Thema für eine Schule ist."

Irena Sendler im Februar 2008. Die damals 98-Jährige hat Besuch aus Deutschland. Drei Schülerinnen und zwei Lehrerinnen der Robert-Jungk-Oberschule sind aus Berlin nach Warschau gekommen. Eigentlich empfängt die kleine Frau im Rollstuhl nur noch selten Besucher. Für die Schüler der deutsch-polnischen Europaschule macht sie eine Ausnahme, denn die Jugendlichen kommen in besonderer Mission.

In einem Schulprojekt im Fach Polnisch erforschen sie zweisprachig die Geschichte der Rettung von 2500 jüdischen Kindern aus dem Warschauer Ghetto und wollen die Heldin von damals persönlich kennen lernen. Die heute 17-Jährige Natalia erinnert sich an eine geistig hellwache, kluge Frau, die "große Wärme" um sich verbreitete.

"Ich dachte, sie hat so viele Kinder gerettet, sie muss so viel Kraft haben, aber als sie uns umarmt hat, sie war so klein und so zerbrechlich. Das war so schön, dass wir geweint haben."

Rückblick: Bereits kurz vor Kriegsbeginn kümmerte sich die damals fast 30-Jährige Pädagogin Irena Sendler als Sozialarbeiterin um bedürftige Menschen im – wie die Nazis es später nannten – "Jüdischen Wohnbezirk in Warschau". Als 1940 das Ghetto abgeriegelt wurde, verschaffte sie sich als "Krankenschwester zur Seuchenbekämpfung" weiter Zugang, um helfen zu können. Täglich erlebte sie, wie die Menschen dort erbärmlich zugrunde gingen - darunter auch viele Kinder. In ihren Erinnerungen schreibt sie – Zitat:

"Die Straßen im Ghetto waren voll von bettelnden Kindern. Wir sahen sie beim Betreten des Ghettos und wenn wir es nach einigen Stunden verließen, waren es häufig nur noch kleine, mit Zeitungen bedeckte Leichen."

Als 1942 die Deportationen der Juden begannen, beschloss die Sendlerowa, möglichst viele Kinder zu retten. Im illegalen Judenhilferat Zegota organisierte sie ein ausgeklügeltes Netzwerk von Verbündeten und schaffte ab 1942 2500 Kinder auf die "arische Seite".

Zeitenwechsel: Im Sommer 2007, erfahren die Schüler der deutsch-polnischen Robert-Jungk-Oberschule in Berlin von dieser Geschichte. Die polnische Schriftstellerin und Journalistin Anna Mieszkowska ist mit ihrem Buch über Irena Sendler, die "Mutter der Holocaust-Kinder", an ihre Schule gekommen. Nach dieser Lesung war für drei Schülerinnen klar, dass sie sich näher mit der Geschichte dieser Frau beschäftigen wollen. Zwei davon sind heute noch an der Schule. Die 17- und 18- Jährigen Schülerinnen Natalia und
und Karolina:

"Bei mir ist so, dass wenn ich von 'Helden' höre, von Leuten, die kleine Kinder retten, das glaube ich einfach nicht, aber dieser Geschichte habe ich sofort geglaubt und wollte einfach mehr davon erfahren und ich war einfach so begeistert, dass Irena Sendler ihr Leben riskiert hat. Ich denke, dass junge Leute müssen von solche Leute erfahren. Jeder hat mich gefragt, dass so viele Kinder gerettet sind und ich hab alles erzählt, das, was ich weiß."

Inzwischen ist ein Portfolio und eine Internetpräsentation mit Recherche-Ergebnissen und Fotos entstanden. Auch der Besuch in Warschau ist dokumentiert. In Vorträgen und Veranstaltungen haben die Schülerinnen, die beide erst vor knapp drei Jahren aus Polen nach Berlin gezogen sind, ihr Wissen weitergegeben. Jetzt interessieren sich auch jüngere Schüler für Irena Sendler; Katarzyna aus der neunten Klasse etwa. Sie knüpfte mit einem Referat im Ethikunterricht an die Projektarbeit an:

"Damit mehr Menschen davon erfahren, also mich hat das ein bisschen geändert, ich hab' jetzt bisschen andere Einstellung zu allem."

Eine ganz besondere Einstellung zum Leben hat auch Piotr Zettinger – schon sehr lange. Der heute 72-Jährige ist eines der geretteten "Kinder", sein Besuch an der Robert-Jungk-Europaschule vergangenes Jahr war einer der Höhepunkte des Schülerprojekts:

"Ich kann mich erinnern an ein Tor, da stand eine Gruppe von Menschen, die hat versucht, sich zu verstecken. Da war ein deutscher Soldat, der patrouilliert hat und jemand sagte zu mir, wenn dieser Soldat an dem Tor vorbeigegangen ist, sollen wir ganz schnell rennen."

1942 - im Alter von vier Jahren wurde Zettinger durch Abwasserkanäle auf die – wie es damals hieß - "arische Seite" gebracht. Dort empfing ihn "Schwester Jolanta", so der Decknahme Irina Sendlers und schrubbte ihn erst einmal gründlich ab:

"Wahrscheinlich haben wir fürchterlich gestunken. Um ein Uhr nachts hat sich Frau Irena Seife von einer Nachbarin geborgt und behauptet, sie müsse jetzt die große Wäsche machen."

In Kisten, Koffern oder Sanitätsfahrzeugen versteckt, wurden die Kinder ausgeschleust. Sie überlebten in Pflegefamilien, Waisenhäusern und kirchlichen Einrichtungen. Manche entkamen über ein Gerichtsgebäude, das einen Ausgang aus dem Ghetto hatte. Die Kleinsten wurden mit Schlafmitteln betäubt.

Als Irena Sendler 1943 von der Gestapo verhaftet wurde, verriet sie auch unter schwerster Folter kein einziges Kind. Sie wurde zum Tode verurteilt, konnte aber fliehen. Die Namen der Kinder begrub sie in einem Warschauer Garten. Dort blieb "Sendlers Liste" bis zum Kriegsende unter einem Apfelbaum in einer Flasche verborgen. Alle Kinder überlebten und bekamen ihre wahre Identität zurück.

Jahrzehntelang schwieg Irena Sendler über ihre Rettungsaktionen. Warum? "Einem Ertrinkenden reicht man die Hand", sagte sie immer wieder – ein Grundsatz ihres Vaters, eines sehr sozial sehr engagierten Arztes, der früh starb, weil er sich um Typhuspatienten kümmerte, die niemand mehr behandeln wollte. Auch diese mitmenschliche Haltung ist es, die die Berliner Schüler dazu inspiriert, sich weiter mit Irena Sendlers Geschichte und dem Schicksal der Juden zu beschäftigen. Natalia erinnert sich besonders an einen Satz der kleinen, alten Frau mit der großen Persönlichkeit:

"Man unterteilt die Leute nicht in welche Rassen sie sind und welche Religion sie glauben, sondern, es gibt nur gute und schlechte Menschen."