Semiotik

Keine Sprache hält ewig

Moderation: Stephan Karkowsky · 17.12.2013
Vor 75 Jahren gelang die erste Kernspaltung, in 100.000 Jahren wird der Atommüll noch immer radioaktiv strahlen. Der Semiotiker Roland Posner, welche Zeichen dann noch auf die Gefahr hinweisen könnten.
Stephan Karkowsky: Die Semiotik ist die Wissenschaft der Zeichensysteme, also der Schriften, der Formeln, der Gestik und sonstigen Zeichen, mit denen Menschen Inhalte ausdrücken können. Semiotiker wissen, es muss eine immerwährende Verständigung geben über die Bedeutung dieser Zeichen. Denn vergessen wir sie, dann sterben Sprachen aus und sogar Warnschilder verlieren ihre Bedeutung, weil sie keiner mehr lesen kann. Für unser strahlendes Erbe, den Atommüll, ist das besonders wichtig.
Denn wie können wir heute beim Bau von Atommüllendlagern sicherstellen, dass auch in 10.000 oder 20.000 Jahren Menschen noch immer wissen, hier darfst du nicht rein, hier lagert etwas aus grauer Vorzeit, das die Menschheit noch immer vernichten kann? Eine spannende Frage auch für den Berliner Professor für Semiotik Roland Posner. Guten Tag!
Roland Posner: Guten Tag!
Karkowsky: Beginnen wir einfach mal mit den Skeptikern, die in diesem Fall die Optimisten sind! Die fragen, aus welchem Grund das Wissen denn verloren gehen sollte, dass radioaktiver Atommüll lebensgefährlich ist?
Posner: Wenn wir in die Geschichte zurückschauen, egal, in welcher Kultur, finden wir enorm viele Brüche, Brüche, die dadurch entstehen, dass Generationen von Familien zu Ende gekommen sind, dass ganze Bereiche ausgestorben sind und so weiter. Das heißt, wir können uns nicht verlassen, wenn eine Kultur existiert und auch blüht, dass sie in 10.000 Jahren noch da sein wird, nicht mal in 100 Jahren, das wissen wir aus dem 20. Jahrhundert.
Karkowsky: Ich mache da mal einen Vorschlag, wir bräuchten im Prinzip ein sich selbst erklärendes Zeichensystem, mit dem wir diese Atomgräber, diese Atommüllendlager versehen. Also, in der Zeit, in der sich selbsterklärende Smartphones auf dem Markt befinden, die intuitiv bedienbar sind, sollte das doch eigentlich möglich sein, oder?
Posner: Es kommt darauf an, wie man die Sache aufzieht. Die Problematik, die jetzt da formuliert worden ist, es ist oft so formuliert, wie Sie es gerade selbst gemacht haben, nämlich dass wir heute in der Lage sein sollten, für Leute, die es noch nicht gibt und die in 10.000 Jahren vielleicht leben werden, eine Mitteilung zu machen, die als an sich adressiert empfinden und verstehen können. Und wenn man das so formuliert, wird es unlösbar.
Die Frage ist, wie kann es lösbar gemacht werden. Und da muss man einfach nur zurückschauen in der Geschichte: Wir haben eine Reihe von kontinuierlichen Entwicklungen, die aufgrund der Struktur der betreffenden Gesellschaften sich erhalten haben. Und die Frage ist, was für Strukturen brauchen wir, um eine Botschaft, die wir heute an Leute späterer Generationen weitergeben wollen, ja erst mal formulieren und dann auch etablieren können.
Das Atomkraftwerk in Fukushima.
Hier werden auch in Jahrtausenden noch warnende Zeichen nötig sein: Fukushima.© picture alliance / dpa / Kyodo
Karkowsky: Welche Strukturen halten Sie denn für dauerhaft?
Posner: Wiederum, unsere Erfahrungen sind, dass die Religionen, insbesondere die Schriftreligionen eine sehr lange Lebensdauer haben. Man spricht da von der Achsenzeit, das ist die Zeit, die ungefähr vor 2.500 Jahren war. Mehrere Religionen sind damals eingeführt worden durch die Religionsväter beziehungsweise Propheten. Und das war deren Werk, dass deren Ideen sich so lange gehalten haben, indem sie nämlich von Person zu Person, ad personam adressiert formuliert waren. Und diese Idee, die spielt eine große Rolle bei dem Versuch, Kontinuität in Kulturen zu erhalten.
Karkowsky: Der Künstler Bazon Brock hat es aufgegriffen vor einiger Zeit in seiner Berliner "Denkerei", da kümmert er sich um unlösbare Probleme. Und in Sachen Atommüll hat er vorgeschlagen, auf dem Berliner Moritzplatz eine Kathedrale des Atommülls aufzustellen und die Bürger über Generationen hinweg zu einem Ewigkeitsdienst zu verpflichten. Also, Atompriester als Wächter des Atommülls. Aber ganz neu ist diese Idee nicht, oder?
Posner: Neu ist die Idee nicht, sie ist Anfang der 80er-Jahre zum ersten Mal formuliert worden von einer Reihe von Leuten, Anthropologen, Semiotikern, vorwiegend aus dem nordamerikanischen Kontinent. Und das Problem bei dieser Idee ist und das habe ich dann versucht zu bereinigen, dass diese Idee eigentlich sehr menschenverachtend ist, so wie sie geäußert wurden, denn dieses Gremium von Priestern sollte nach zum Beispiel Thomas Sebeok eine Versammlung sein, die regelmäßig Mythen erfindet, und das, um die Menschen in Angst zu halten vor ganz bestimmten Atommülldeponien.
Das ist der eine Ansatz. Der andere Ansatz, der sich später aber durchgesetzt hat demgegenüber, wäre der, dass man nicht versucht, durch Vermeidung und durch Ablehnung von Annäherung an bestimmte zum Beispiel Atommülllager das Ding zu lösen, sondern umgekehrt die Atommülllager ganz sichtbar für alles zu halten. Also, nicht die Strategie "Aus den Augen, aus dem Sinn", sondern die Strategie, wir müssen es immer sehen, damit wir immer daran erinnert werden.
Karkowsky: Mitten in die Stadt.
Posner: Ja.
Genmanipulierte Katzen als Warnhinweis
Karkowsky: Sie hören den Berliner Professor für Semiotik Roland Posner, denn heute vor 75 Jahren gelang die erste Kernspaltung. Wir nehmen das zum Anlass, noch einmal über das ungelöste Problem des Atommülls zu sprechen, und da kann uns die Semiotik womöglich helfen. Herr Posner, dann nehme ich jetzt doch noch mal die Position des Pessimisten ein: Es gibt da diesen sehr poetisch-philosophischen Dokumentarfilm aus Finnland, der heißt "Into Eternity", über das Atommüllendlager Onkalo. Das soll nach seiner Befüllung versiegelt werden und dann mindestens 100.000 Jahre durchhalten, so denken sich das die Architekten. Ist nicht eigentlich jedes Nachdenken komplett zwecklos darüber, wie wir Menschen im Jahr 2013 nach Christi Geburt vor den Gefahren dieser Grube warnen könnten?
Posner: Zunächst mal kann man sagen, diese Idee hat eine lange Tradition und im Grunde schließt das auch an an die Idee, die alle Ingenieure kennen, das Perpetuum mobile, das heißt, eine Konfiguration technischer Art, die sich selbst erhält und die keinerlei Energiezufuhr braucht, aber die auch keinerlei Energien verbraucht. Das kann man jetzt wiederum anwenden auf gesellschaftliche Verhältnisse.
Zunächst mal, also, Anfang der 80er-Jahre war es so, dass die Leute einfach dachten, wir könnten Ingenieurleistungen da einsetzen, zum Beispiel eine besonders haltbare CD oder Schallplatte. Oder wenn das schon nicht helfen sollte, könnten wir vielleicht die Biologie einspannen und vielleicht genmanipulierte Wesen haben.
Karkowsky: Katzen.
Posner: Katzen, zum Beispiel Stanislaw Lem hat das Strahlenkatzen genannt, die überall dort auftauchen sollten, wo es vielleicht vergrabenen Atommüll gibt. Und das spielt schon eine große Rolle, dass man denkt, das würde sich selbst auf diese Weise lösen, das Problem. Dahinter sind auch Erfahrungen tatsächlich aus Kulturen, die 3.000 oder mehr Jahre zurückreichen, zum Beispiel die babylonische Kultur, die zum Beispiel die Mitteilung, dass die und die Bibliothek von dem und dem Herrscher, zum Beispiel Assurbanipal gebaut worden ist, dadurch mitgeteilt haben, dass sie möglichst viele Throntäfelchen in der Umgebung dieses Gebäudes verstreut haben, so dass irgendjemand ja einmal so ein Täfelchen finden würde, selbst wenn das Gebäude schon zerstört ist, und diese Mitteilung immer noch bekommen würde. Ob er sie dann dechiffrieren kann, ist eine weitere Frage.
Auch darüber haben sich die Semiotiker viele Gedanken gemacht. Es gibt die sogenannte Glottochronologie, das heißt, die Lehre vom Zeitverlauf der Sprachgeschichte. Und da sagt man, dass zwischen 6.000 und 12.000 Jahre die Zeit sind, in der eine Sprache unerkennbar wird. Und das ist natürlich auch eine ganz schön lange Zeit, aber bei Weitem nicht das, was wir bräuchten, um dieses Atomproblem zu lösen.
Politiker kümmern sich noch nicht um das Problem
Karkowsky: Sie machen sich noch keine Ewigkeiten Gedanken um das Thema, aber schon sehr lange. Und Ihr Buch, "Warnungen an die ferne Zukunft", ist bereits 1990 erschienen. Im Grunde genommen steht da alles drin, was heute auch in vielen Beiträgen zum Thema immer wieder nachgekaut wird. Haben Sie den Eindruck, diese Warnungen sind von der aktuellen Politik verstanden worden, und spielen die eine Rolle zum Beispiel jetzt beim neuen Minister für die Energiewende, Sigmar Gabriel?
Posner: Ich kann sagen, dass dieses Buch, das 1990 erschienen ist, genau in die Diskussion hineingeraten ist, die damals bei der Wiedervereinigung eine Rolle spielte, nämlich dass man Verfassungen haben wollte für die neuen Bundesländer. Und ich habe mich damals mit diesem Buch auch durchaus sehen lassen. Die verschiedensten Politiker haben das gut gefunden, aber sie haben gesagt, wir haben jetzt erst mal dringendere Probleme.
Karkowsky: So ist das bis heute.
Posner: So ist das im Grunde bis heute. Die Hauptfrage ist in dem Zusammenhang, wie wir zum Beispiel in einem Kontinent wie Europa die verschiedenen Länder, in denen Atommüll produziert wird, dazu bringen können, dies als gemeinsames Problem anzusehen und die Lösung auch gemeinsam vielleicht mit anderen ungelösten Aufgaben anzupacken. Andere ungelöste Aufgaben dieser Art sind solche, die über Jahrzehnte oder Jahrhunderte einen ganz bestimmten Betreuungsbedarf erzeugen.
Ich denke da an die Weltraumfahrt, wo, wenn ein Raumschiff dann nach 350 Jahren zurückkommt, irgendjemand da sein muss, der weiß, wann es gestartet wurde und welche Sorte von Auftrag es hatte und so weiter. Das heißt, wir geraten in eine Zeit, in der Zukunftsprobleme Alltagsprobleme sein werden. Das ist für uns neu. Man kann also sagen, dass die Atomsemiotik uns hat reinrutschen lassen in eine neue Menschheitsphase.
Karkowsky: Heute vor 75 Jahren gelang die erste Kernspaltung. Und heute in 100.000 Jahren wird der Atommüll noch immer radioaktiv strahlen! Sie hörten dazu den Berliner Atomsemiotiker Roland Posner, den Autor des visionären, aber doch leider vergriffenen Buches "Warnungen an die ferne Zukunft". Ihnen danke für das Gespräch!
Posner: Danke auch!

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