Semantik eines Konflikts: Afghanistan

Von Dietmar Herz |
Am 6. Juli dieses Jahres starb Robert S. McNamara. Er galt als der beste Mann der Kennedy-Administration. Der Präsident hatte den Manager 1961 als Verteidigungsminister in seine Regierung geholt. McNamara bewährte sich in der Kubakrise, während deren Verlauf die Gefahr eines Nuklearkrieges größer war als jemals vor- und seither, als er unter großen Anspannungen Umsicht bewies.
Gleiches wollte er in Vietnam unter Beweis stellen: Von Vietnam wusste er nicht viel, aus eigener Anschauung kannte er das Land nicht. Mit der Geschichte Südostasiens hatte er sich nie beschäftigt. Wozu auch? Innerstaatliche wie internationale Konflikte ließen sich - so seine Auffassung - technisch lösen: Mit einem überlegenen politischen System, mit militärischer und wirtschaftlicher Übermacht. Einem Rechenexempel analog, war die Intervention zu planen und auszuführen, rationales Kalkül bestimmte sodann das Ergebnis der Auseinandersetzung. Die Geschichte verlief anders. 1995 nannte McNamara in einem Buch über den Vietnamkrieg die amerikanische Politik einen "furchtbaren Irrtum".

Robert McNamara, einer der Architekten des Vietnamkrieges, nannte diesen Krieg einen "furchtbaren Irrtum". Daraus war zu lernen und einige Zeit schien es, Entscheidungsträger in Washington und anderswo hätten daraus gelernt. Dann aber warf Präsident Bush die Lehre aus dem Vietnamkrieg über Bord. Erneut war alles ganz einfach. Schlimmer noch: McNamaras rationales Kalkül wurde durch ideologische Überzeugungen und Freund-Feind-Denken ersetzt. Der Nahe und Mittlere Osten sollte demokratisiert werden. Die Politik scheiterte.

Seit Herbst 2006 - die Republikaner verloren die Kongresswahlen - ist von Demokratisierung nicht mehr die Rede. Und die Bilanz ist bitter: Die USA schlitterten in ihr, seit dem demütigenden Rückzug aus Vietnam, größtes außenpolitisch-militärisches Debakel. Die Lektion von Vietnam musste noch einmal gelernt werden. Asymmetrische Kriege, Stammeskämpfe, religiöse und ethnische Konflikte können mit einem Ansatz, wie ihn die USA in Vietnam, lange im Irak und bis vor kurzem in Afghanistan verfolgten, nicht gewonnen werden: So lange, wie die Übermacht der Amerikaner bereit ist zu kämpfen und eine gewisse Anzahl von Verlusten in Kauf zu nehmen, können solche Konflikte aber auch nicht verloren werden. Nicht zu verlieren und nicht zu siegen führt letztlich zum Rückzug.

Darum geht es nun in Afghanistan. Vor einigen Tagen sprach der amerikanische Verteidigungsminister davon, die amerikanische Bevölkerung und auch die Streitkräfte der USA seien "müde". Es klingt, als seien die Offensiven in Afghanistan ein letzter Versuch, das Blatt zu wenden. In Europa ist diese Müdigkeit seit langem zu spüren. Die Kämpfe in Afghanistan eskalieren und manche europäische Regierung rettet sich in eine beschwichtigende Rhetorik. Ausgeprägt ist dieses Verhalten in Deutschland.

Die Diskussion um die Semantik des Krieges, das Beharren auf formalen, juristischen Definitionen geht an der Lebenswirklichkeit moderner Konflikte vorbei. Die kriegführenden Staaten müssen sich auf eine Linie der Beurteilung des Konflikts einigen. In ganz Afghanistan findet ein komplizierter Krieg mehrerer Fraktionen gegeneinander statt. Die Verantwortlichen der intervenierenden Staaten aber denken, Afghanistan ist genau da, wo sie sich gerade befinden - für die Briten ist das Helmand, für die Kanadier ist es Kandahar, für die Amerikaner war Afghanistan bis vor kurzem ein Luftkrieg, wie der erfahrene britische Politiker und Diplomat Lord Ashdown kürzlich sarkastisch bemerkte.

Semantische oder juristische Definitionskünste - Kriege gebe es nur unter Staaten, oder die Gegner seien keine Kombattanten, sondern eine Terrororganisation - entbehren nicht einer gewissen Hilflosigkeit. Bürgerkriege sind Kriege. Weder kommt es darauf an, wer sie führt, noch ob im Territorium des Krieges an allen Stellen mit gleicher Intensität gekämpft wird. Die Akzeptanz dieser Tatsache ist die Voraussetzung einer kohärenten Strategie - alles andere ist innenpolitisch motivierte Beschwichtigung.

Die Intervention brachte die westliche Politik zwischen Skylla und Charybdis: Ein Rückzug aus Afghanistan ist nicht möglich - die Allianz würde in eine große Krise geraten, die Bürgerkriege im Land eskalieren, Al Kaida würde eine Operationsbasis finden und es wäre nicht auszuschließen, dass der Bürgerkrieg sich zu einem regionalen Konflikt ausweitet.

Der Status quo ist aber ebenso keine Option: Er prolongiert den Zustand des Nicht-Siegens und Nicht-Verlierens. Dafür schwindet die Akzeptanz einer des Krieges "müden" Bevölkerung. Es bedarf des Willens, diesen Krieg mit den nötigen Mitteln und unter Anerkenntnis der damit verbundenen Probleme zu führen: Das bedeutet für eine überschaubare Zeit den Einsatz von mehr Soldaten, den verstärkten Aufbau afghanischer Sicherheitskräfte und eine nüchterne Beurteilung der Wirklichkeit des Landes.

Eine einseitige Stärkung der Zentralregierung führt zu keiner Befriedung - traditionelle Stammesstrukturen müssen berücksichtigt werden und mit den "Aufständischen", wenigstens großen Teilen davon, muss man langfristig zu einem Modus vivendi kommen. Wenn dieser Prozess eingeleitet wird, kann über eine Abzugsstrategie nachgedacht werden. Ein neuer "furchtbarer Irrtum" kann nur durch die Akzeptanz der historisch gewachsenen Gegebenheiten des Landes vermieden werden.

Es kann nicht darum gehen, ein "neues Afghanistan" zu schaffen, es geht um die Eindämmung von Bedrohungen. Ein bescheidenes Ziel, aber eines das zu erreichen ist. Alles andere ist Sache der Afghanen.

Dietmar Herz, Politikwissenschaftler und Rechtsphilosoph, geb. 28. Dezember 1958 in Schwabniederhofen. Studium an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Professuren für Politische Wissenschaft in Bonn und Erfurt. Seit September 2008 Direktor der Erfurt School of Public Policy.