Seltsame Anbetung: Verderber als Ikonen

Von Alan Posener |
Der Künstler war vom Massenmörder geradezu besessen. Er machte den größten Verbrecher des 20. Jahrhunderts zur berühmtesten Ikone der Pop-Art. Heute muss jedes Kunstmuseum wenigstens einen Adolf Hitler von Andy Warhol haben.
Denn Warhol, so Eugen Blume, Leiter des Hamburger Bahnhofs in Berlin, in dem einer dieser dekorativen Hitler-Siebdrucke hängt, symbolisiere die sechziger Jahre, als – ich zitiere – "alles auf Selbstverwirklichung aus war, von der Hippiebewegung bis zur Studentenrevolte, die die Konventionen der patriarchalisch geführten Männergesellschaft grundlegend in Frage stellten und gegen den Vietnamkrieg für Frieden und eine andere Gesellschaftsordnung eintraten."

Bevor sich Historiker und Kunstkenner empören, sei zugegeben: ich habe gesponnen. Nicht Adolf Hitler lächelt uns im Hamburger Bahnhof entgegen, sondern Mao Tse-Tung.

An unseren Ikonen sieht man, wie wir es mit unseren Idealen halten. Wer kennt auch nur eines der 70 Millionen Opfer Maos beim Namen? Ihr Mörder wird mit Mariyln Monroe in einem Atemzug genannt. Wer kennt den Namen auch nur eines einzigen kubanischen Dissidenten? Aber Che Guevara ist ein Popstar. Derselbe Che Guevara, der Stalin verehrte; eigenhändig politische Gefangene erschoss; Schwule ins Arbeitslager schickte; "zwei drei Vietnams" schaffen und einen Atomkrieg um Kuba provozieren wollte, damit "die Asche des heroischen kubanischen Volkes zur Grundlage neuer Gesellschaftsordnungen werde". Das Konterfei dieses atomaren Selbstmordattentäters schmückt Millionen T-Shirts. Und da wir schon bei Mode-Accessoires sind: Jassir Arafats Palästinenserfeudel war jahrzehntelang der sichtbare Beweis politisch korrekter Gesinnung. Dass Arafat den Judenmord zu seinem Geschäft gemacht hat, störte in Deutschland nicht weiter.

Nach Rudi Dutschke, der eine ganze Generation zur Gewalt verführte, benennt man eine Straße in Berlin - unmittelbar am Checkpoint Charlie; Benno Ohnesorg, das erste Opfer der Eskalationstaktik, verkommt zum Kollateralschaden der Bewegung. Einer Bewegung, deren Verklärung zur Lebenslüge der deutschen Linken geworden ist. Dem Chef des Hamburger Bahnhofs mag man diese Verklärung nachsehen. Er war nicht dabei. Als wir in den Straßen Westberlins randalierten, studierte er brav – in Ostberlin. Aber das Ausmaß der Verdrängung bei meinen Zeitgenossen beschämt mich. Natürlich hatten wir Gründe; klar wurden wir provoziert; und, ja, als junge Menschen hatten wir ein Recht auf Irrtum. Allerdings hat man als älterer Mensch die Pflicht, seine Irrtümer zuzugeben und zu korrigieren.
Dieser Tage erinnern wir uns daran, dass vor vierzig Jahren Mao die Kulturrevolution entfesselte. Erinnern wir uns auch daran, welche Inspiration diese Kulturrevolution für uns war? Oh ja, wir sahen die Bilder von johlenden Studenten, die ihre gedemütigten Lehrer durch die Straßen trieben; wir hörten von Kindern, die ihre Eltern als Konterrevolutionäre denunzierten; wir wussten, dass Bücher verbrannt, Kunstwerke vernichtet, dass die Traditionen von Jahrtausenden ausgelöscht wurden; wir kannten die Mao-Poster und die revolutionären Peking-Opern, die an deren Stelle traten. Und wir waren begeistert.

So feierte Jacques Jurquet in seinem Buch "Der revolutionäre Frühling" den Pariser Mai 68: "Der Protest gegen die Ideologie des Bürgertums kam mit einer in Frankreich bisher nie gekannten Kraft zum Ausbruch und griff oft genug zur reinen Gewalt. Offizielle Theater und Museen, Fakultäten und Gymnasien wurden gestürmt. … In den radikalen Methoden äußerte sich der tiefe Wille, all den alten, verbrauchten bürgerlichen Kunst- und Kulturkram zu zerschlagen und aus dem Weg zu räumen. Gehörte nicht gerade auch das zu den ersten Erscheinungen der Kulturrevolution, die drei Jahre zuvor in Peking und ganz China begonnen hatte?"

Als Jurquet diese Hymne an die Gewalt verfasste, war Mao schon dabei, die Roten Garden zu zerschlagen, die Studenten und Schüler zur Umerziehung aufs Land zu verfrachten. Er hatte sie benutzt, um seine Feinde aus dem Weg zu räumen, die Intellektuellen einzuschüchtern, den Terror in jeden Winkel Chinas zu tragen, die Erinnerung an eine Zeit und eine Kultur vor Mao auszulöschen. Nun wurden seine nützlichen Idioten entsorgt. Währenddessen winkten wir Wohlstandskinder mit dem Kleinen Roten Buch und johlten im Schatten der Mauer: "Mao TseTUNG!"

Schlimmer aber als unsere damalige Naivität ist unser heutiger Zynismus. Was gab es für eine Empörung über das angebliche Blutgeld des Kunstmäzens Friedrich Flick! Ohne Gedenken an die Opfer der Nazis soll niemand die Sammlung Flick im Hamburger Bahnhof sehen dürfen. Aber wir goutieren Warhols Mao und fordern kein Gedenken an die 70 Millionen. Wir haben nichts einzuwenden gegen das Che Guevara-T-Shirt. Gegen das Arafat-Halstuch. Oder gegen die Rudi-Dutschke-Straße. Obwohl wir sehr genau Bescheid wissen. Denn die Sixties, die waren cool, und wir mit ihnen, und das lassen wir uns nicht nehmen, auch wenn Wahrheit und Moral dabei drauf gehen.

Alan Posener, 1949 in London geboren, aufgewachsen in London, Kuala Lumpur und Berlin, studierte Germanistik und Anglistik an der FU Berlin und der Ruhr-Universität Bochum. Er arbeitete anschließend im Schuldienst, dann als freier Autor und Übersetzer. Von 1999 bis 2004 war er Mitarbeiter der "Welt", zunächst als Autor, dann als Redakteur. Seit März 2004 ist er Kommentarchef der "Welt am Sonntag". Posener publizierte neben Schullektüren u.a. Rowohlt-Monographien über John Lennon, John F. Kennedy, Elvis Presley, William Shakespeare und Franklin D. Roosevelt, die "Duographie" Roosevelt-Stalin und den "Paare"-Band über John F. und Jacqueline Kennedy.
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