Selektive Erinnerung

13.05.2010
Es hört sich an wie eine romantische Geschichte, eine, die leicht Gefahr läuft, ins Kitschige abzugleiten: Da lernen sich ein Mann und eine Frau, beide Amerikaner, beide in den besten Jahren, auf einem Platz im italienischen Fiesole kennen. Sie verlieben sich und beschließen, mit dem Auto kreuz und quer durch Europa zu fahren, das Essen, die Landschaft, das Miteinander zu genießen und einander ihr Leben zu erzählen.
Eine Nostalgietour also, ist sich der Leser ziemlich schnell sicher, und auch das sonnendurchtränkte Foto auf dem Umschlag des neuen Buches von Binnie Kirshenbaum suggeriert, dass es sich hier eher um eine eskapistische Heile-Welt-Geschichte handelt als um einen realistischen Roman.

"Die Geschichte von Henry und mir" aber hat durchaus so etwas wie einen doppelten Boden. Auf jeden Fall geht dem Roman das Pathos des Erinnerns ab. Denn was Henry und Sylvia sich aus ihren Leben erzählen, eignet sich keineswegs für beschauliche Betrachtungen. Die Vergangenheit wird hier nicht beschworen, von keinem goldenen Zeitalter wissen Sylvia und Henry zu berichten. Es sind vielmehr Geschichten des Scheiterns und der Lügen, von denen der Leser erfährt.

Da ist etwa die Schwester von Sylvias Mutter, die mit ihrem Mann davon träumt, ein Künstlerleben in New York zu führen. Geldmangel und fehlende Risikobereitschaft bescheren ihnen allerdings ein Provinzleben in totaler Abhängigkeit von den Eltern. Nur in der feiertäglichen Bastelei findet die künstlerische Leidenschaft der verkappten Malerin noch traurig-skurrilen Ausdruck:

"Sie färbte Eier wie man Ostereier färbt, zerbrach die gelben, blauen und roten Eierschalen in kleine Stücke und klebte sie wie Mosaiksteine auf die Deckel alter Zigarrenkisten. Ihre Wiedergabe von van Goghs Sonnenblumen in zerbrochenen Eierschalen war zwar verrückt, aber meisterhaft ausgeführt."

Mit dem Wert, den wir Erinnerungen zuschreiben, ist es überhaupt so eine Sache: Nachdem ihr Vater einen Unfall erlitten hat, erzählt Sylvia ihrem Henry irgendwo zwischen Venedig und Wien, Berlin und Ljubljana, kann er sich weder an seine Tochter noch an seine Frau erinnern, sehr wohl aber daran, was ein Pastrami-Sandwich ist und wie liebend gern er es isst. Und auch Sylvia selbst antwortet, als sie gefragt wird, ob sie sich an ihre Teenager-Zeit erinnern könne: "Nur, wenn ich muss."

Man hat es bei "Die Geschichte von Henry und mir" also mit einem hinterhältigen, einem geschickt erzählten Buch zu tun. Es steckt zwar voller Erinnerungen. Doch ebenso wichtig wie die Kraft des Gedächtnisses ist Binnie Kirshenbaums Figuren die Fähigkeit zum Vergessen, weil Erinnerungen immer wieder schmerzlich an Schwächen, Enttäuschungen und Fehlentscheidungen gemahnen.

Daher endet der Roman auch weder mit einem Happy End noch mit einer Katastrophe: Wie all die Verwandten und Freunde, von denen Henry und Sylvia einander berichten, gehen auch sie kein Risiko ein. Statt ihr Leben zu ändern, trennen sie sich lieber am Ende der Reise. So bleibt ihnen wenigstens die schöne Erinnerung an ein Europa im Sonnenschein.

Besprochen von Tobias Lehmkuhl

Binnie Kirshenbaum: Die Geschichte von Henry und mir
Übersetzt von Barbara Ostrop
DTV, München 2010
311 Seiten, 14,90 Euro