Phänomen Selbstüberschätzung

Kritik unerwünscht!

Ein aufgemalter Smiley auf einem Handspiegel
Die Popularität von Selbstglaubenssätzen spiegelt die kindliche Sehnsucht nach einem Urvertrauen, das uns in der postreligiösen Welt abhandengekommen ist, meint Alexander Estis. © Getty Images / Segundopremio
Eine Glosse von Alexander Estis |
„Believe in yourself!“ Dieser viel zitierte Glaubenssatz symbolisiert ein weit verbreitetes Phänomen der Selbstüberschätzung, meint Alexander Estis. Bei all der Ichsucht sehnt sich der Schriftsteller die alte Tugend Demut zurück.
In der Welt wohlfeiler Kalendersprüche, die sich neuerdings gern unter dem Label „inspirierende Zitate“ präsentieren, ist die Sentenz „Believe in yourself!“ wohl unbestrittene Königin und Urmutter einer ganzen Sippe sinnähnlicher Slogans.
„Positives Denken und der Glaube an sich selbst, sind der Weg zum Erfolg“, belehrt uns etwa eine erweiterte Version in weißer Schrift, gelegt über eine Berglandschaft im warmfarbigen Sonnenuntergang.
Keine Frage, wir alle plagen uns ab und an mit zerfleischenden Selbstzweifeln, wir alle leiden immer wieder an unserer Unzulänglichkeit, wir alle lassen uns von miesepetrigen Nörglern herunterziehen und müssen also in uns selbst Bestärkung finden.

Was, wenn die Leistung miserabel ist?

Das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten ist gut und wichtig, wenn solche zumindest im Ansatz existieren und wenn man alles daransetzt, sie auszubilden. Doch fatal ist es, wenn diese Fähigkeiten fehlen und wenn das Selbstvertrauen als Rechtfertigung für die mangelnde Arbeit an ihrer Entwicklung dient.
An sich zu glauben bedeutet in der vulgärpsychologischen Lesart nämlich nicht die Zuversicht, dank übermenschlicher Anstrengungen eine großartige Leistung vollbringen zu können, sondern umgekehrt den unerschütterlichen Glauben daran, dass die Leistung, die ich eben vollbringe, als großartig zu gelten habe, wie miserabel sie in Wirklichkeit auch sei.

Der Kritiker als Feind

Ich kann alles schaffen: Zum Beispiel kann ich eine hervorragende Künstlerin werden. Wer nicht daran glaubt, ist ein Feind, wer mich kritisiert, ist schädlich für meine Entfaltung. Ich kann eine hervorragende Künstlerin sein, daran glaube ich, also sind meine zwischen Affenkunst und Vorschulkleckserei changierenden Fingerfarbenabdrücke auf Tonpapier, von denen ich in zehnminütiger spiritueller Ekstase fünfzig hochwertige Versionen produziert habe, als großartige Kunst zu bezeichnen.
Da ich einzigartig bin, ist auch mein künstlerisches Erzeugnis einzigartig - qua Schöpfungsakt überträgt sich meine Besonderheit auf das von mir erzeugte Objekt. Im Umkehrschluss bedeutet Kritik an diesem Objekt stets auch Kritik an meiner Besonderheit und damit an mir als Person. Ja sie wird geradezu existenzgefährdend, weil das Objekt als unmittelbarer Ausdruck meiner authentischen Subjektivität erscheint, an die ich bedingungslos glaube.

Kindliche Sehnsucht nach Urvertrauen

Aus gestrenger moralischer Höhe will man hinabrufen: Was ist angesichts all dieser Ichsucht bloß aus der alten Tugend der Demut geworden? Bedeuten nicht sogar die seltenen Fälle von echter Gabe oder gar Genie weitaus mehr eine Verpflichtung denn einen Anlass für Selbstliebe?
Doch mit diesen sicher nicht ganz verkehrten Korrektiven würde man dem Massenphänomen des „self-belief“ kaum gerecht. In der Popularität solcher Selbstglaubenssätze spiegelt sich wohl die ungestillte kindliche Sehnsucht nach einem Urvertrauen, das uns in der postreligiösen, posthierarchischen, postkollektiven Welt abhandengekommen ist. Einfacher gesagt: Woran soll der Mensch glauben, wenn nicht an sich selbst?
Ich weiß es nicht. Allerdings wäre es vielleicht ein Anfang, nicht an blöde Sprüche zu glauben. Denn – so ein anderer blöder Spruch – die größten Lügen der Menschheit sind triviale Wahrheiten. Und gerade indem wir solche Trivialitäten dekonstruieren, dürfte sich offenbaren, woran wir ruhig wieder mehr glauben könnten: Nämlich an ein dialogisches Gegenmodell zur egozentrischen Selbstüberschätzung. Man nennt es: Kritik.

Alexander Estis ist Schriftsteller und Kolumnist. 1986 in Moskau geboren, studierte er in Hamburg deutsche und lateinische Philologie, anschließend lehrte er an verschiedenen Universitäten in Deutschland sowie in der Schweiz, wo er seit 2016 als freier Autor lebt. Er schreibt für unter anderem die „FAZ“, die „SZ“, die „NZZ“ und die „ZEIT“. Zuletzt erschien von ihm das Buch „Fluchten“ bei der Edition Mosaik.

Portrait eines Mannes im Sakko, Hemd und Schlips
© privat
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