Selbstporträt in Geschichten
Am Anfang ist es nur die alte Katze, die an Senilität leidet. Sie schleicht nachts durchs Haus und jault, weil sie vergessen hat, wonach sie sucht. Doch so wie der Kreatur ergeht es bald auch den Menschen. Die Erinnerung ist ein labiles System, und nicht jeder weiß am Ende noch, wer er ein Leben lang gewesen ist.
Im weiteren Verlauf der Geschichten von Margaret Atwood lernen wir eine Maklerin kennen, die an Alzheimer erkrankt. Die Erzählerin konfrontiert uns mit ihren alt gewordenen Eltern: Der Vater verwechselt nach dem zweiten Schlaganfall das heimische Wohnzimmer mit einer Dschungelwildnis und sorgt sich um Ausrüstung und Proviant. Und die Mutter, blind und halb taub, ist nur noch über ein Ohr ansprechbar, das der Tochter wie ein langer Tunnel durch die Zeit erscheint.
Von außen gesehen ist der alte Körper eine papierene Hülle. Aber was passiert da innen drin, am anderen Ende des Tunnels? Lebt die Mutter dort in den Geschichten ihrer Vergangenheit? Was weiß sie noch davon, sie, die nur ein vergilbtes Fotoalbum übrig ließ und die ihre Tagebücher am Ende eines jeden Jahres vernichtete?
Die elf Erzählungen in dem Band "Moralische Unordnung" können jeweils für sich stehen, ergeben aber hintereinander gelesen ein Selbstporträt und eine Familiengeschichte, die von den 50er Jahren bis in die Gegenwart reicht. Der autobiographische Hintergrund ist erkennbar, zumindest die äußeren Daten stimmen mit denen Margaret Atwoods überein, die 1939 in Ottawa geboren wurde und eine der bedeutendsten Schriftstellerinnen Kanadas ist.
Die letzte Geschichte, die von der frühen Kindheit im rauen Norden Kanadas berichtet, wo der Vater als Insektenforscher in einem Labor arbeitete, ist zeitlich die erste. Die späteste, in der die Ich-Erzählerin Nell und ihr Ehemann Tig frühstücken, steht am Anfang. Atwood, die mit dem Schriftsteller Graeme Gibson verheiratet ist, gibt hier Einblick in die Vertrautheit einer langjährigen Beziehung mit all ihren Ritualen.
Tig muss die schlechten Nachrichten aus der Zeitung loswerden, indem er ihr mitteilt, was schon wieder passiert ist in der Welt: "Sie haben den Chef der Übergangsregierung umgelegt." Sie möchte das lieber nicht so genau wissen. "Wir mögen die schlechten Nachrichten nicht", notiert sie, "aber wir brauchen sie. Wir müssen Bescheid wissen, denn es könnte auch uns treffen. Eine Rotwildherde auf einer Wiese, die Köpfe gesenkt, friedlich grasend. Dann wuff, wuff - Wildhunde im Wald. Köpfe hoch, Ohren aufgestellt. Zur Flucht bereit!"
Wie die Bilder eines Fotoalbums blättert Atwood ein Leben aus einzelnen Momenten auf. Sie erzählt von der Elfjährigen, die sich auf die Geburt der Schwester vorbereitet, indem sie manisch die Babyausstattung strickt und ein Buch über Haushaltsführung liest. In der Schule interpretiert sie Brownings berühmtes Gedicht von der "letzten Herzogin" und identifiziert sich dabei lieber mit dem Frauenmörder als mit der toten Gattin.
Es folgen rastlose, einsame Wanderjahre als Lehrerin und Lektorin mit wechselnden, strapaziösen Liebschaften. Das Jahr 1968 und die folgende Hippiezeit nerven sie ein wenig: Wenn die Freunde da schon wieder auf dem Boden hocken und LSD-Trips schmeißen, sehnt sie sich danach, konventionell an einem Tisch zu sitzen.
Schließlich folgt, zusammen mit Tig, die Flucht aufs Land, die Liebe und das Leben in der Natur. Doch auch diese Beziehung beginnt unter Schwierigkeiten: Tig ist verheiratet, hat zwei Söhne, und braucht viel Zeit, um sich von seiner ersten Frau zu trennen.
Atwood interessiert sich für weibliche Rollenbilder. Sie zeigt eine Frau in wechselnden Abhängigkeiten und in ihrem Kampf um Selbstbestimmung. Weil sie das Zeitkontinuum in einzelne Momente zerteilt, stellt sich von Bild zu Bild, von Erzählung zu Erzählung, die Frage: Wie hängt das eigentlich alles zusammen? Wie kommt es, dass so verschiedene Identitäten sich zu einer einzigen Person zusammenfügen? Wie wird aus den Einzelheiten eine Biographie?
Atwood steigert diesen Effekt noch dadurch, dass sie von der Ich-Erzählung der Kindheit bei den Ehe-Geschichten in die dritte Person wechselt. Immer wieder sind es Übergänge, Türen, Tunnel und harte Schnitte, die dieses Buch strukturieren. So befremdlich, wie der Blick zurück auf das frühere Ich gelegentlich sein mag, so sieht Nell sich am Ende ihrer Schulzeit einmal auch schon in der Zukunft dasitzen und auf sich selbst zurückblicken.
Atwood lotet den winzigen Zwischenraum zwischen dem Damals und dem Noch-Nicht aus, denn auf diesem schmalen Grat findet das Leben statt. Klug und einfühlsam spürt sie dem Verstreichen der Zeit und dem Verschwinden der Erinnerungen nach, bleibt aber trotz der immanenten Traurigkeit ganz und gar erzählerisch, heiter und leicht. Das Leben vergeht. Dagegen ist nichts zu machen. Aber das spricht nicht gegen das Leben.
Rezensiert von Jörg Magenau
Margaret Atwood: Moralische Unordnung
Deutsch von Malte Friedrich. Berlin Verlag, Berlin 2008
254 Seiten. 19,90 Euro
Von außen gesehen ist der alte Körper eine papierene Hülle. Aber was passiert da innen drin, am anderen Ende des Tunnels? Lebt die Mutter dort in den Geschichten ihrer Vergangenheit? Was weiß sie noch davon, sie, die nur ein vergilbtes Fotoalbum übrig ließ und die ihre Tagebücher am Ende eines jeden Jahres vernichtete?
Die elf Erzählungen in dem Band "Moralische Unordnung" können jeweils für sich stehen, ergeben aber hintereinander gelesen ein Selbstporträt und eine Familiengeschichte, die von den 50er Jahren bis in die Gegenwart reicht. Der autobiographische Hintergrund ist erkennbar, zumindest die äußeren Daten stimmen mit denen Margaret Atwoods überein, die 1939 in Ottawa geboren wurde und eine der bedeutendsten Schriftstellerinnen Kanadas ist.
Die letzte Geschichte, die von der frühen Kindheit im rauen Norden Kanadas berichtet, wo der Vater als Insektenforscher in einem Labor arbeitete, ist zeitlich die erste. Die späteste, in der die Ich-Erzählerin Nell und ihr Ehemann Tig frühstücken, steht am Anfang. Atwood, die mit dem Schriftsteller Graeme Gibson verheiratet ist, gibt hier Einblick in die Vertrautheit einer langjährigen Beziehung mit all ihren Ritualen.
Tig muss die schlechten Nachrichten aus der Zeitung loswerden, indem er ihr mitteilt, was schon wieder passiert ist in der Welt: "Sie haben den Chef der Übergangsregierung umgelegt." Sie möchte das lieber nicht so genau wissen. "Wir mögen die schlechten Nachrichten nicht", notiert sie, "aber wir brauchen sie. Wir müssen Bescheid wissen, denn es könnte auch uns treffen. Eine Rotwildherde auf einer Wiese, die Köpfe gesenkt, friedlich grasend. Dann wuff, wuff - Wildhunde im Wald. Köpfe hoch, Ohren aufgestellt. Zur Flucht bereit!"
Wie die Bilder eines Fotoalbums blättert Atwood ein Leben aus einzelnen Momenten auf. Sie erzählt von der Elfjährigen, die sich auf die Geburt der Schwester vorbereitet, indem sie manisch die Babyausstattung strickt und ein Buch über Haushaltsführung liest. In der Schule interpretiert sie Brownings berühmtes Gedicht von der "letzten Herzogin" und identifiziert sich dabei lieber mit dem Frauenmörder als mit der toten Gattin.
Es folgen rastlose, einsame Wanderjahre als Lehrerin und Lektorin mit wechselnden, strapaziösen Liebschaften. Das Jahr 1968 und die folgende Hippiezeit nerven sie ein wenig: Wenn die Freunde da schon wieder auf dem Boden hocken und LSD-Trips schmeißen, sehnt sie sich danach, konventionell an einem Tisch zu sitzen.
Schließlich folgt, zusammen mit Tig, die Flucht aufs Land, die Liebe und das Leben in der Natur. Doch auch diese Beziehung beginnt unter Schwierigkeiten: Tig ist verheiratet, hat zwei Söhne, und braucht viel Zeit, um sich von seiner ersten Frau zu trennen.
Atwood interessiert sich für weibliche Rollenbilder. Sie zeigt eine Frau in wechselnden Abhängigkeiten und in ihrem Kampf um Selbstbestimmung. Weil sie das Zeitkontinuum in einzelne Momente zerteilt, stellt sich von Bild zu Bild, von Erzählung zu Erzählung, die Frage: Wie hängt das eigentlich alles zusammen? Wie kommt es, dass so verschiedene Identitäten sich zu einer einzigen Person zusammenfügen? Wie wird aus den Einzelheiten eine Biographie?
Atwood steigert diesen Effekt noch dadurch, dass sie von der Ich-Erzählung der Kindheit bei den Ehe-Geschichten in die dritte Person wechselt. Immer wieder sind es Übergänge, Türen, Tunnel und harte Schnitte, die dieses Buch strukturieren. So befremdlich, wie der Blick zurück auf das frühere Ich gelegentlich sein mag, so sieht Nell sich am Ende ihrer Schulzeit einmal auch schon in der Zukunft dasitzen und auf sich selbst zurückblicken.
Atwood lotet den winzigen Zwischenraum zwischen dem Damals und dem Noch-Nicht aus, denn auf diesem schmalen Grat findet das Leben statt. Klug und einfühlsam spürt sie dem Verstreichen der Zeit und dem Verschwinden der Erinnerungen nach, bleibt aber trotz der immanenten Traurigkeit ganz und gar erzählerisch, heiter und leicht. Das Leben vergeht. Dagegen ist nichts zu machen. Aber das spricht nicht gegen das Leben.
Rezensiert von Jörg Magenau
Margaret Atwood: Moralische Unordnung
Deutsch von Malte Friedrich. Berlin Verlag, Berlin 2008
254 Seiten. 19,90 Euro