Selbstgespräch eines besessenen Technikgenies

16.04.2013
Seelisch gefangen in der kalten Laborwelt, getrieben von Verfolgungsängsten: In seinem neuen Roman zeigt Ernst-Wilhelm Händler die dämonische Seite eines High-Tech-Unternehmers, das das Menschliche dem Technischen opfert. Ein beeindruckendes literarisches Vexierspiel.
In einer Rückblende berichtet der Ich-Erzähler in Ernst-Wilhelm Händlers jetzt viel gefeiertem Roman "Der Überlebende", wie "geschockt" er als Kind darüber gewesen sei, dass sich die Erwachsenen nicht für Rechenmaschinen interessieren. Er tut es. Dafür hat er Schwierigkeiten, menschliche Gesichter zu erkennen. Ernst-Wilhelm Händler, schon lange bekannt als Autor so kühler wie vertrackter Versuchsanordnungen in der Form von Romanen, hat sein neues Buch als Selbstgespräch eines besessenen Technikgenies angelegt. Sein Ich-Erzähler ist Geschäftsführer eines High-Tech-Unternehmens für elektronische Steuerelemente in Leipzig. Heimlich experimentiert er noch mit kleinen, intelligenten Robotern, "S-bots" genannt, die lernen sollen, selbstständig Gemeinschaftsaufgaben zu übernehmen und etwa Lasten zu tragen, die ein einzelner von ihnen nie bewältigen könnte.

Seelisch gefangen in der kalten Laborwelt und getrieben von Verfolgungsängsten, ist der Erzähler bereit, alles für diese Experimente zu opfern. Allmählich stellt sich heraus, dass seine ganze Familie inzwischen tot ist; der Ich-Erzähler hat ihren Tod zumindest mitverursacht, halb durch Ungeschick, halb aber auch, weil er Sorge hatte, seine Nächsten würden ihn bei seinen Experimenten stören.

"Unzählige Bücher schildern, wie jemand Dichter, Maler oder Komponist wird. Aber es gibt kein einziges, das beschreibt, wie jemand Ingenieur wird", heißt es an einer Stelle. Das stimmt zwar nicht ganz, erinnert sei an "Homo Faber" von Max Frisch und den Mathematiker Ulrich in Robert Musils "Mann ohne Eigenschaften". Aber bei der Bedeutung der Technik für unser Leben kann es nicht genug Ingenieursromane geben. Zu Recht hat sich Händler öffentlich darüber beklagt, die Literatur würde den Geist des Kapitalismus allzu oft an seinen Folgen für die sogenannten einfachen Menschen aufzeigen und zu wenig, indem sie versuche, die komplexen Getriebenheiten seiner Protagonisten zu schildern.

Liebe gegen Kreativität: Ein diabolischer Tausch
Allerdings beschreibt auch Händler letztlich nicht, wie jemand Ingenieur wird, vielmehr lässt er seinen Ich-Erzähler sich selbst dämonisieren. Da geht es um die "teuflische Seite", die als "die Rückseite des gewienerten Fortschritts" dargestellt wird, und um "bösartige Gefühle" in einem Bewusstsein, das gelernt hat, in mathematischen Unendlichkeiten zu denken und die Kälte des Weltalls ins Kalkül zu ziehen.

Offenbar kann einem deutschen Schriftsteller bei der Darstellung eines Naturwissenschaftlers immer noch das Faustische dazwischenkommen – der Teufelspakt und der diabolische Tausch der Liebe gegen Kreativität. Zweifelhaft, ob man mit solchen geistesgeschichtlichen Motiven tatsächlich der heutigen Stellung des Menschen im Kosmos nahekommt, wie Händler es vorhat.

Sein Roman "Der Überlebende" ist ein beeindruckendes literarisches Vexierspiel. Es gibt großartige sprachliche Wendungen wie etwa einen "gerauschten Flügelschlag". Aber eine Frage kann der Roman nicht beantworten, und es mag sein, dass er einen als Leser genau deshalb doch kalt lässt: Warum hält sein Ich-Erzähler, der das Menschliche dem Technischen opfert, so einen Selbstrechtfertigungsmonolog? Ob seine S-bots ihm jemals zuhören werden?

Besprochen von Dirk Knipphals

Ernst-Wilhelm Händler: Der Überlebende
S. Fischer Verlag, Frankfurt a.M. 2013
320 Seiten, 19,99 Euro