Selbstfindung durch Sex

Rezensiert von Peter Urban-Halle |
Hingabe, körperliche Liebe zwischen Unbekannten, das ist nichts Besonderes, das ist im Gegenteil eine Voraussetzung, auch beim Meister der obszönen Literatur, Henry Miller.
Meister der erotischen Literatur sind die japanischen Autoren beziehungsweise Autorinnen, jüngst wurde bei uns die hinreißende Yoko Ogawa bekannt. Erstmals auf Deutsch erschien nun die 40-jährige Journalistin Mari Akasaka mit ihrem erotischen Entwicklungsroman "Vibration".

Die Ich-Erzählerin, 31, ebenfalls Journalistin, hört seit langem innere Stimmen, sie sucht sie durch Alkohol, übermäßiges Essen und Erbrechen in Schach zu halten. In einem Supermarkt trifft sie auf einen jüngeren Fernfahrer, den sie eine Weile auf seinen Fahrten begleitet, sich ihm hingibt und auf diese Weise zu sich selbst zurückfindet.

Interessant an diesem Buch ist aber, dass ihre Selbstfindung nicht nur über die hemmungslose Kopulation mit einem Fremden in der Schlafkoje des Lastwagens stattfindet. "Vibration", das ist einerseits das Beben des laufenden Motors, andererseits das innere Zittern zwischen Angst und Versuchung, ist auch eine Art linguistische Erzählung über die Regeln der Kommunikation, die Erzählerin entziffert sozusagen ihren Körper, wie sie die Sprache entziffert und - was besonders wichtig ist - ihr Verhältnis zur Sprache.

Wie bei der Deutsch-Japanerin Yoko Tawada geht es auch bei Akasaka um das Verschwinden der Person im Text, zumindest am Anfang, vor ihrer "Emanzipation":

"Mein Selbst, das nicht länger stumm sein, sondern Widerstand leisten sollte, verflüssigt sich, wird ganz und gar Text."

Dem zu entgehen, strebt die Erzählerin eine Totalität von Körper (die zunächst selbstlose Hingabe an den jungen "unzivilisierten" Fernfahrer) und Geist an, letzterer arbeitet von Mal zu Mal fleißiger, ihre Intelligenz wird immer ehrgeiziger und wacher.

Dies können wir der bei uns schon bekannten Französin Alina Reyes ("Der Schlachter") nur bedingt bescheinigen. Ihr tagebuchartiger Text "Die siebte Nacht" (keinesfalls ein Roman), der sieben Nächte einer Frau mit einem verheirateten Mann protokolliert, bedient sämtliche Klischees, besonders das allmähliche Steigern der Lust von Nacht zu Nacht (erst nur gucken, dann anfassen, aber nicht die primären Geschlechtsorgane, dann überall, aber ohne den Höhepunkt zu provozieren usw.).

Dieser Langeweile versucht sie durch - schaut man näher hin - eher sinnloses, scheinintellektuelles Gerede über beispielsweise "von Seele umhülltes Liebesfleisch" zu begegnen, das bisweilen an Zeilenschinderei grenzt:

"Ich liebe den, den ich liebe, den ich liebte, lieben werde. Wen ich liebe, ist eine Spirale in der Zeit, sie hat kein Ende, auch ich nicht, die ich ihn liebe. Und alles, was ich sagen will, ist, dass es nur die Liebe gibt."

Mari Akasaka: Vibration
Roman. Aus dem Japanischen von Sabine Mangold.
DVA, München 2005. 160 Seiten, 16,90 Euro.

Alina Reyes: Die siebte Nacht
Roman. Aus dem Französischen von Gaby Wurster.
Bloomsbury, Berlin 2005. 84 Seiten