Selbstbestimmung statt Gottesfurcht
Gerhard Schulze durchstreift Philosophie und Theologie, um mit seiner soziologischen Bestandsaufnahme über die sieben Todsünden punktgenau in der Gegenwart zu landen. Geistreich und unterhaltsam geht es unter anderem um die Frage: Halten wir es dauerhaft aus, ohne Sündenregister zu leben?
Von den sieben Todsünden ist uns einzig die der Völlerei geblieben, allerdings gilt auch sie längst nicht mehr als Missetat vor Gott, sondern als etwas gegen sich selbst Gerichtetes, womit wir unserer Gesundheit schaden. Gerhard Schulze zeigt, wie und warum die Aufklärung zu einem vollständigen Normenwechsel geführt hat, vom Bemühen um ein gottesfürchtiges Leben hin zum Streben nach dem Glück auf Erden, von der Unterwerfung unter Kirchengebote hin zu einer selbstbestimmten und veränderlichen Moral, von der Sünde zur Selbstverantwortung in einer Gesellschaft freier und gleicher Bürger.
Im ersten Teil seines Buches analysiert Schulze die Bedeutung der sieben Todsünden in vergangenen Zeiten, hält Ausschau nach säkularen Entsprechungen heute oder erklärt, warum aus einstigen Todsünden sogar Tugenden werden konnten.
"Die Moral verfällt nicht, sie wandelt sich nur. Einerseits hat sich die moralische Regulierung der Privatsphäre weitgehend aufgelöst. Andererseits gibt es Anzeichen einer Remoralisierung der Privatsphäre. Beides aber ist das Ergebnis eines intensiven, jahrzehntelangen ethischen Diskurses."
Dieser Diskurs ist anstrengend, und die Wandelbarkeit von Moral beunruhigt nicht wenige Menschen. Freude über das schöne Leben, das heißt über mehr Freiheit und Gleichheit und weniger Not wird verheimlicht, als handele es sich immer noch um etwas Sündhaftes. In tieferen Gefühlsschichten ist die christliche Moral, die alles verbot, was das Leben schön macht, nach wie vor virulent, und so wirksam, dass wir uns auch deshalb mit Fehlentwicklungen und Gefahren weit mehr befassen als mit Fortschritten und Lebensverbesserungen.
Schulze durchstreift Philosophie und Theologie, um punktgenau in der Gegenwart zu landen, zu einer soziologischen Bestandsaufnahme, die große Gedanken locker und elegant mit Alltagsbeobachtungen verbindet, nicht nur wenn es um die Todsünde der Trägheit geht:
"So merkwürdig den Kirchenvätern Tätigkeiten wie Jogging, Mountainbiking, Internetsurfen oder Computerspiele vorgekommen wären, sie hätten doch vielleicht billigend zur Kenntnis genommen, dass moderne Menschen freiwillig aktiv sind, ohne den moralischen Knüppel der Todsünde im Nacken."
Geistreich und unterhaltsam stimmt Gerhard Schulze sein Publikum ein auf den zweiten Teil seines Buches, in dem es – vereinfachend gesagt – um die Frage geht, halten wir es dauerhaft aus, ohne Sündenregister zu leben, ertragen wir die Freiheit, erkennen wir unser schönes Leben überhaupt als solches? Oder geben wir der Versuchung nach, in die Geborgenheit vermeintlicher Gewissheiten zurückzukehren? Fragen, die uns mit neuer Dringlichkeit von außen auferlegt worden sind. Seit Islamisten uns als gottlose Sünder beschimpfen und bekämpfen, ist die westliche Welt, sind wir zu gründlicher Selbstanalyse, zu mehr Bewusstheit genötigt und, was noch viel schwieriger ist, zu Bekenntnissen.
"Die gegenwärtige Schwäche des Westens in dieser Konfrontation besteht nicht etwa in einem Defizit an Wertvorstellungen, sondern in ihrer Verstecktheit."
Schulze hält uns vor Augen, wo wir stehen, und was das bedeutet:
"Im Muster der Vormoderne herrscht das Weltbild magischer Religiosität; Sünden sind Verstöße gegen göttliche Vorschriften. Im Muster der sich entwickelnden Moderne dominiert das Aufbegehren gegen diesen Sündenbegriff; Vorschriften akzeptieren die Menschen nur noch, wenn sie einen sozialen Sinn ergeben. Im Muster der gereiften Moderne schließlich ist der alte Sündenbegriff in Vergessenheit geraten und die antike Idee der Selbstbegrenzung kehrt wieder, doch diesmal ist freiwillige Selbstbegrenzung gemeint, und sie wird nicht als geoffenbarte Idee aus dem Jenseits aufgefasst, sondern als eigene Idee."
Optimisten sind Ignoranten, dumme Leute, die die Probleme nicht erkennen. Kritisch hat die Haltung eines aufgeklärten Menschen zu sein. So lautet eines unserer ungeschriebenen Kommunikationsgesetze. Deshalb ist das Meckern zur Tugend geworden, denn schließlich könnte immer alles noch besser sein und ist ja längst noch nicht perfekt. Mit Lust und Verve erlaubt sich Gerhard Schulze zum einen den Meckerern zu sagen, dass die Freiheit der Moderne ihnen das Kritisieren nicht nur erlaubt, sondern die Moderne auch unter Beweis stellt, andererseits lockt er uns mit brillanten Argumenten ins Gegenteil, in etwas, wovor wir uns aus guten Gründen scheuen: in Stolz und Entschiedenheit. In Stolz auf unsere Freiheit und unsere Fähigkeiten in ihr gut zu bestehen und in die Bereitschaft, das schöne Leben gegen seine Feinde entschieden zu verteidigen. Diese Feinde sind vormoderne Religionen und neue Erweckungsbewegungen:
"So zusammengewürfelt und ohne Bezug zueinander die Reihe der neuen Propheten auch scheint, so deutlich ist doch ihr heimlicher Konsens der Verneinung des Common Sense und der Verachtung der persönlichen Suche nach Glück."
Zum schönen Leben gehört das Glück des freies Denkens, das nach Wissen und Erkenntnis sucht und weiß, dass all das vorläufig ist und somit in ständiger Bewegung. Gerhard Schulze ist sein Vergnügen am Denken und Debattieren auf jeder Seite seines Buches anzumerken. Das macht es wunderbar lebendig und mitreißend. Er beweist: Denkfreude hat einen optimistischen Kern, denn sie will die Welt bewegen, nicht festhalten. Und sie ist ansteckend wie die Freude am schönen, das heißt selbst bestimmten und selbst verantworteten Leben.
Gerhard Schulze: Die Sünde. Das schöne Leben und seine Feinde
Carl Hanser Verlag
288 Seiten, 21,50 Euro
Im ersten Teil seines Buches analysiert Schulze die Bedeutung der sieben Todsünden in vergangenen Zeiten, hält Ausschau nach säkularen Entsprechungen heute oder erklärt, warum aus einstigen Todsünden sogar Tugenden werden konnten.
"Die Moral verfällt nicht, sie wandelt sich nur. Einerseits hat sich die moralische Regulierung der Privatsphäre weitgehend aufgelöst. Andererseits gibt es Anzeichen einer Remoralisierung der Privatsphäre. Beides aber ist das Ergebnis eines intensiven, jahrzehntelangen ethischen Diskurses."
Dieser Diskurs ist anstrengend, und die Wandelbarkeit von Moral beunruhigt nicht wenige Menschen. Freude über das schöne Leben, das heißt über mehr Freiheit und Gleichheit und weniger Not wird verheimlicht, als handele es sich immer noch um etwas Sündhaftes. In tieferen Gefühlsschichten ist die christliche Moral, die alles verbot, was das Leben schön macht, nach wie vor virulent, und so wirksam, dass wir uns auch deshalb mit Fehlentwicklungen und Gefahren weit mehr befassen als mit Fortschritten und Lebensverbesserungen.
Schulze durchstreift Philosophie und Theologie, um punktgenau in der Gegenwart zu landen, zu einer soziologischen Bestandsaufnahme, die große Gedanken locker und elegant mit Alltagsbeobachtungen verbindet, nicht nur wenn es um die Todsünde der Trägheit geht:
"So merkwürdig den Kirchenvätern Tätigkeiten wie Jogging, Mountainbiking, Internetsurfen oder Computerspiele vorgekommen wären, sie hätten doch vielleicht billigend zur Kenntnis genommen, dass moderne Menschen freiwillig aktiv sind, ohne den moralischen Knüppel der Todsünde im Nacken."
Geistreich und unterhaltsam stimmt Gerhard Schulze sein Publikum ein auf den zweiten Teil seines Buches, in dem es – vereinfachend gesagt – um die Frage geht, halten wir es dauerhaft aus, ohne Sündenregister zu leben, ertragen wir die Freiheit, erkennen wir unser schönes Leben überhaupt als solches? Oder geben wir der Versuchung nach, in die Geborgenheit vermeintlicher Gewissheiten zurückzukehren? Fragen, die uns mit neuer Dringlichkeit von außen auferlegt worden sind. Seit Islamisten uns als gottlose Sünder beschimpfen und bekämpfen, ist die westliche Welt, sind wir zu gründlicher Selbstanalyse, zu mehr Bewusstheit genötigt und, was noch viel schwieriger ist, zu Bekenntnissen.
"Die gegenwärtige Schwäche des Westens in dieser Konfrontation besteht nicht etwa in einem Defizit an Wertvorstellungen, sondern in ihrer Verstecktheit."
Schulze hält uns vor Augen, wo wir stehen, und was das bedeutet:
"Im Muster der Vormoderne herrscht das Weltbild magischer Religiosität; Sünden sind Verstöße gegen göttliche Vorschriften. Im Muster der sich entwickelnden Moderne dominiert das Aufbegehren gegen diesen Sündenbegriff; Vorschriften akzeptieren die Menschen nur noch, wenn sie einen sozialen Sinn ergeben. Im Muster der gereiften Moderne schließlich ist der alte Sündenbegriff in Vergessenheit geraten und die antike Idee der Selbstbegrenzung kehrt wieder, doch diesmal ist freiwillige Selbstbegrenzung gemeint, und sie wird nicht als geoffenbarte Idee aus dem Jenseits aufgefasst, sondern als eigene Idee."
Optimisten sind Ignoranten, dumme Leute, die die Probleme nicht erkennen. Kritisch hat die Haltung eines aufgeklärten Menschen zu sein. So lautet eines unserer ungeschriebenen Kommunikationsgesetze. Deshalb ist das Meckern zur Tugend geworden, denn schließlich könnte immer alles noch besser sein und ist ja längst noch nicht perfekt. Mit Lust und Verve erlaubt sich Gerhard Schulze zum einen den Meckerern zu sagen, dass die Freiheit der Moderne ihnen das Kritisieren nicht nur erlaubt, sondern die Moderne auch unter Beweis stellt, andererseits lockt er uns mit brillanten Argumenten ins Gegenteil, in etwas, wovor wir uns aus guten Gründen scheuen: in Stolz und Entschiedenheit. In Stolz auf unsere Freiheit und unsere Fähigkeiten in ihr gut zu bestehen und in die Bereitschaft, das schöne Leben gegen seine Feinde entschieden zu verteidigen. Diese Feinde sind vormoderne Religionen und neue Erweckungsbewegungen:
"So zusammengewürfelt und ohne Bezug zueinander die Reihe der neuen Propheten auch scheint, so deutlich ist doch ihr heimlicher Konsens der Verneinung des Common Sense und der Verachtung der persönlichen Suche nach Glück."
Zum schönen Leben gehört das Glück des freies Denkens, das nach Wissen und Erkenntnis sucht und weiß, dass all das vorläufig ist und somit in ständiger Bewegung. Gerhard Schulze ist sein Vergnügen am Denken und Debattieren auf jeder Seite seines Buches anzumerken. Das macht es wunderbar lebendig und mitreißend. Er beweist: Denkfreude hat einen optimistischen Kern, denn sie will die Welt bewegen, nicht festhalten. Und sie ist ansteckend wie die Freude am schönen, das heißt selbst bestimmten und selbst verantworteten Leben.
Gerhard Schulze: Die Sünde. Das schöne Leben und seine Feinde
Carl Hanser Verlag
288 Seiten, 21,50 Euro