Selbstbefriedigung und Pornosucht

Von Christian Berndt · 10.02.2013
Die Filmfestspiele Berlin sind bekannt für schlechtes Wetter und politisches Kino. In diesem Jahr ist allerdings auch ein anderes Feld präsent, wie vielleicht noch nie auf der Berlinale: das Thema Sex.
"Tell me about the person, you’re playing. – First I’m closed up like a flower. – Ah, and.. – And then, the peddle’s start to open. And then, finally, I learn about myself, an then I feel free.”"

Linda ist beim Foto-Shooting und fühlt sich ziemlich wohl dabei. Das 22-jährige Mädchen hat solche Aufmerksamkeit noch nie erlebt. Dabei geht es nicht um einen Selbstverwirklichungskurs – ihr Freund Chuck hat sie überredet, Pornos zu drehen. Der amerikanische Film "Lovelace" erzählt die Geschichte von Linda Lovelace, die in den 70er-Jahren zum ersten Porno-Weltstar wurde. Sie spielte in dem Film "Deep Throat" – damals ein Fanal für die sexuelle Revolution, wie Regisseur Jeffrey Friedman vor der Premiere in Berlin erzählt:

""Die Herausforderung für uns war, diese Welt zu rekonstruieren, in der Porno etwas sehr Spezielles war. Es war immer etwas Flüchtiges, man ging dafür in eine Kabine und warf eine Münze hinein, aber es war nie eine öffentliche Erfahrung, wie sie es mit Deep Throat wurde. Deep Throat war ein völliger Bruch, denn es schuf eine pornografische Erfahrung in der öffentlichen Arena."

"Deep Throat" war Anfang der Siebzigerjahre der erste Pornofilm, den sich Ehepaare im Kino anschauten - es war schick. Zunächst wurde Linda Lovelace zum Symbol der sexuellen Befreiung – dann aber wendete sie sich davon ab und erklärte, sie sei von ihrem Freund zum Pornodreh gezwungen worden. Jetzt avancierte Lovelace zum Star der feministischen Bewegung.

Ob Lindas Version echt ist - später drehte sie wieder Softporno-Filme - lässt "Lovelace" offen. Doch die Art, wie die Verlogenheit einer angeblichen Befreiung durch Porno ausgestellt wird, lässt kaum erahnen, warum "Deep Throat" damals ein heute so schwer nachvollziehbares Befreiungsgefühl vermittelte. Und die Sexualität selbst bleibt seltsam unsichtbar.

Zurückhaltend in der Darstellung ist auch ein anderer amerikanischer Film, der allerdings verbal direkt ist: "Don Jon’s Addiction" handelt von einem attraktiven Mann Ende zwanzig, der pornosüchtig ist. Für den jungen Regisseur und Hauptdarsteller Joseph Gordon-Levitt geht es dabei allerdings nicht alleine um Sex, sondern um ein allgemeines Zeitphänomen.

Joseph Gordon-Levitt: "Die Themen des Films sind, wie die Medien sich auf unsere Kultur und speziell unser Liebesleben auswirken. Ich wollte darstellen, dass dieser Charakter alles in seinem Leben zum Objekt macht. Nicht nur Frauen, sein Appartement, sein Auto, seine Freunde und Familie, sogar seinen eigenen Körper. Jemand, der jedes Wochenende Frauen abschleppt, aber trotzdem immer noch Pornos schaut."

Der junge Held Don ist Internet-Konsum – nicht nur von Pornografie – so gewohnt, dass die Realität ihn nicht befriedigt. Mit dem Resultat, sich mit Ersatzfantasien zu begnügen wie ein Pubertierender – ein Film über die Internet-Generation. Auch wenn "Don Jon’s Addiction" als Komödie einigermaßen funktioniert, so sehr bleibt das Happy End, an dem er endlich die Richtige findet und nun keine Pornos mehr braucht, Behauptung – denn ob Sexualität besser ist als Porno bleibt in der sterilen Darstellung fraglich.

Einen interessanteren Zugang dagegen findet ein indonesischer Film: In "Something in the Way" geht es um den jungen Taxifahrer Ahmad, der derartig onaniesüchtig ist, dass er selbst im Wagen nicht damit aufhören kann. Doch dann verliebt er sich in seine Nachbarin Santi – eine Prostituierte.

Ahmad will Santi aus der Prostitution befreien, scheitert aber dramatisch. Im Gegensatz zu den anderen Filmen zeigt sich hier die Verfügbarkeit von Pornos gar nicht mal als das eigentliche Problem – denn solange die Realität so ist, wie sie ist, sind sie vielleicht sogar die bessere Lösung. Und in einem der poetischsten Beiträge zum Thema ist Sexualität ferner denn je - und trotzdem zentral. Im holländischen Film "Boven is het stil" lebt der alleinstehende 50-jährige Bauer Helmer nur mit seinem alten Vater auf einem abgelegen Hof. Der Sohn pflegt den Alten fürsorglich, aber zwischen beiden herrscht eisige Kälte. Der Alltag ist grau und hart, bis eines Tages ein junger Praktikant auf den Hof kommt.

Der zwanzigjährige Henk weckt plötzlich lang verschüttete Gefühle in Helmer. Für Regisseurin Nanouk Leopold leitet diese Entdeckung einen Erkenntnisprozess ein.

Nanouk Leopold: "Wenn man sich Helmer am Anfang des Films anschaut, ist er ein sehr schöner Mann. Man sieht ihn dabei, wie er seinen Vater wäscht, der sehr alt ist. In ihm sieht er eine eigene, triste Zukunft. Dann, wenn Henk kommt, sieht er diesen jungen Körper. Er sieht, wie er war, als er jung war. Und er hätte eine andere Person werden können, wenn er in seinem Kopf freier gewesen wäre."

Eines Nachts steigt Henk nackt zu ihm ins Bett, Helmer verschließt sich entsetzt. Erst langsam begreift er, dass er eine Wahl hat. Auf der Berlinale zeigt sich, dass im Film rund um die Welt Sexualität mittlerweile ziemlich differenziert und ambitioniert angegangen wird – zwanghafte Selbstbefriedigung, Pornosucht oder Triebstau sind keine verschämten Themen mehr, sondern in die Mitte gerückt. Ob es besser ist, Sexualität auszuleben oder Pornografie doch die bessere Alternative ist, bleibt dabei offen.