Selbstauflösungsrecht ist "nicht lebensnotwendig"
Nach Ansicht des Berliner Rechtswissenschaftlers Christian Pestalozza wird eine Auflösung des Bundestages durch das Karlsruher Urteil einfacher. Deshalb sei ein Selbstauflösungsrecht des Parlaments "nicht lebensnotwendig", erklärte Pestalozza im Deutschlandradio Kultur.
Frank Meyer: Nach dem langen und komplizierten Tauziehen um die vorgezogenen Neuwahlen rufen jetzt viele Politiker nach einem Selbstauflösungsrecht des Bundestages. Und dieses Selbstauflösungsrecht, das ist jetzt unser Thema hier im Radiofeuilleton. Mit dem Rechtswissenschaftler Professor Christian Pestalozza von der Freien Universität Berlin wollen wir darüber sprechen.
Christian Pestalozza, dass es dieses Selbstauflösungsrecht des Parlaments bei uns nicht gibt, das wird immer wieder mit den Erfahrungen in der Weimarer Republik begründet. Alle sieben Reichstage zwischen 1920 und 1931 wurden vorzeitig aufgelöst. Allerdings hatte der Reichstag auch kein Selbstauflösungsrecht. Wie gingen denn die Parlamentsauflösungen damals vor sich?
Christian Pestalozza: Damals war es so, dass der Reichspräsident ohne besondere Voraussetzungen den Reichstag vorzeitig auflösen konnte. Die einzige Hürde, die er zu überwinden hatte nach der Reichsverfassung, war, er durfte nicht mehrmals aus dem - wie es in der Verfassung hieß - dem gleichen Anlass einen Reichstag auflösen. Aber das ließ sich leicht umgehen, indem man eben mal diesen, mal jenen Anlass genannt hatte. Und daran hat sich auch keiner gestoßen. Also es konnte ohne jede Voraussetzung, wenn der Reichspräsident das Gefühl hatte, die politischen Mehrheiten sind instabil - oder was auch immer eine Rolle spielte - oder er war mit der Reichsregierung unzufrieden, dann konnte er auflösen.
Meyer: Was ist dann genau der Unterschied zu unserer heutigen Konstruktion? Denn bei uns ist ja letzten Endes auch der Bundespräsident entscheidend.
Pestalozza: Ja, es ist aber so, dass damals niemand mitwirken musste außer dem Reichspräsidenten. Der Reichspräsident konnte das Verfahren nicht nur anstoßen, sondern er konnte selbst auflösen. Und der Reichstag selbst hatte dagegen keine Abwehrmöglichkeit. Also es kam auf Mehrheiten im Reichstag für oder gegen die Auflösung nicht an. Der einzige kleine Hemmschuh war, dass die Auflösungsanordnung des Reichspräsidenten die Gegenzeichnung des Reichskanzlers brauchte. Aber die war nicht schwierig zu bekommen, weil der Reichskanzler - anders als heute unser Bundeskanzler - nicht vom Parlament ernannt wurde, sondern vom Reichspräsidenten. Da war also ein Abhängigkeitsverhältnis, so dass die Gegenzeichnung immer geliefert wurde. Und heute ist das eben anders: Unser Bundespräsident, also gewissermaßen der Nachfolger des Reichspräsidenten, kann ja die Initiative in dem Fall gar nicht ergreifen, sondern er steht an dritter Stelle.
An erster Stelle initiativberechtigt ist bei uns der Bundeskanzler. Der kann auch nicht alleine entscheiden. Der braucht jetzt das Parlament, das muss ihm mehrheitlich das Vertrauen versagen, um das er gebeten hat - oder angeblich gebeten hat. Und dann wird eingeschaltet, wenn der Bundeskanzler daraufhin den Antrag stellt: Jetzt soll der Bundestag aufgelöst werden, dann erst kommt - sozusagen in der vierten Etappe - als drittes Organ der Bundespräsident zum Zuge. Also es ist sehr viel verwickelter und schwieriger, weil drei Verfassungsorgane zusammenspielen müssen, damit es zur Auflösung kommt, während damals praktisch nur der Reichspräsident das Sagen hatte.
Meyer: Würden Sie denn sagen: Die heutige Konstruktion sorgt für eine größere politische Stabilität? Das ist ja das Argument, das die Befürworter oft bringen.
Pestalozza: Also die Erfahrung bestätigt das. Denn wir haben zweimal eine vorzeitige Auflösung gehabt. 1983 ist es - das heißt, es war schon mal ein Misstrauensvotum: '72, dann '83 - und jetzt eben 2005. Das ist natürlich in einer mehr als 50-jährigen Geschichte sehr viel weniger als die vielen Auflösungen damals unter der Reichsverfassung. Da hat ja kein Reichstag sein normales Ende erlebt, sondern alle Reichstage sind vorzeitig aufgelöst worden, manchmal sogar mehrfach in einem Jahr. Also, das hat schon zur Stabilität beigetragen, weil eben nicht ein Verfassungsorgan das mehr in der Hand hat, sondern drei beteiligt sind.
Meyer: Christian Pestalozza, schauen wir uns das mal im internationalen Vergleich an. Österreich zum Beispiel hat ein sehr unkompliziertes Verfahren zur Parlamentsauflösung: Dort reicht schon die einfache Mehrheit, um den Nationalrat aufzulösen. Das ist zuletzt dort vor drei Jahren passiert. Wie sieht das in anderen Demokratien aus?
Pestalozza: Also, das, was Sie jetzt genannt haben, das österreichische Beispiel, das ist also die reine Selbstauflösung. Das heißt, da haben wir auch wieder nur ein Verfassungsorgan beteiligt an der Auflösung des Parlamentes, und zwar diesmal das Parlament selbst. Also das Parlament ist frei, den Freitod zu wählen sozusagen, das vorzeitige Ende zu wählen. Und kein anderes Verfassungsorgan wird beteiligt. Wir haben eine vergleichbare Lösung noch in Polen und in einigen Nachfolgestaaten der früheren Sowjetunion. Und wir haben diese Lösung ebenfalls in allen unseren deutschen Bundesländern: In allen 16 Verfassungen ist ein solches Selbstauflösungsrecht - teilweise auch mit einfacher Mehrheit - vorgesehen, teilweise allerdings mit qualifizierter Mehrheit.
Meyer: Wie sind die Erfahrungen in den deutschen Bundesländern? Wie sorgfältig wird da mit dem Selbstauflösungsrecht umgegangen?
Pestalozza: Also wir haben jetzt in den mehr als 50 Jahren alte Bundesrepublik und neue Bundesrepublik (haben) wir ungefähr ein Dutzend Landtagsauflösungen gehabt: In Berlin zweimal das Abgeordnetenhaus, in Hamburg etwas öfter, weil da die einfache Mehrheit sogar reicht, also ist es dann natürlich schneller mal so weit, dass man sagt: Wir sind in einer Pattsituation, und wir können das nur durch Neuwahlen lösen. Insgesamt - in Hessen zweimal und so weiter-, also insgesamt so etwa zwölf Mal sind die Landtage aufgelöst worden. Das ist bei 16 Ländern in mehr als 50 Jahren, ist das außerordentlich wenig. Also mein Eindruck ist, von all diesen Fällen, das ist nie missbraucht worden. Wäre ja auch merkwürdig: Warum soll ein Parlament sich frei entscheiden, früher seine Arbeit zu beenden, als der Wähler es gedacht hat? Man verliert sein Mandat, man weiß nicht, ob man ein neues Mandat wiederbekommt. Das ist schon Sperre genug. Also der Selbsterhaltungstrieb aller Abgeordneten sorgt dafür, dass damit kein Missbrauch getrieben wird. Andere Verfassungsorgane haben keine Einwirkungsmöglichkeit, weil sie sind formal nicht beteiligt.
Meyer: Deutschlandradio Kultur, wir sind im Gespräch mit dem Rechtswissenschaftler Christian Pestalozza über das Selbstauflösungsrecht des Bundestages. Christian Pestalozza, es gab in der Geschichte der Bundesrepublik zwei Anläufe, ein solches Selbstauflösungsrecht durchzusetzen: Einmal durch die Enquête-Kommission Verfassungsreform 1976 und dann noch einmal durch die Gemeinsame Verfassungskommission von 1993. Und diese beiden Kommissionen kamen immerhin mehrheitlich zu der Empfehlung, dass der Bundestag die Möglichkeit bekommen sollte, sich mit Zweidrittelmehrheit vorzeitig aufzulösen. Warum wurden diese Vorschläge nie umgesetzt?
Pestalozza: Also in den 70er Jahren lag das wohl daran - da sind eine ganze Reihe von Vorschlägen der seinerzeitigen Kommission nicht umgesetzt worden und auch das Selbstauflösungsrecht fiel dem zum Opfer. In den 90er Jahren, bei der Gemeinsamen Verfassungsreformkommission von Bundestag und Bundesrat lag es etwas anders: Die war zwar auch mehrheitlich für ein Selbstauflösungsrecht des Bundestages, aber es war nur eine einfache, knappe Mehrheit und deswegen ist das dem Bundestag, dem Plenum, und dem Bundesrat gar nicht präsentiert worden als Reformvorschlag, weil man sich vorher geeinigt hat: Wenn die Kommission nicht eine Zwei-Drittel-Mehrheit findet, dann soll es gar nicht dem Plenum vorgelegt werden. Und die Gegnerschaft erklärt sich maßgeblich daraus, dass man sich gestritten hat, hat halt gesagt: Welche Mehrheit soll eigentlich ausreichen? Also mehr eine vielleicht technische Frage: Drei-Viertel-Mehrheit, Zwei-Drittel-Mehrheit, einfache Mehrheit, wie wir es in einigen anderen Ländern ja wie gesagt auch haben? Da hat man sich nicht einigen können und dann hat man diese Dinge zurückgestellt, weil man gesagt hat: Dringlich ist es im Grunde nicht. Also es ist immer das Gefühl gewesen, es ist kein unbedingt notwendiges Instrument. Wir können später noch mal darüber in Ruhe reden und einigen uns dann vielleicht auf die richtigen Mehrheiten. Es gibt ja zwei Mehrheiten, nämlich einmal: Wer darf den Antrag stellen auf Selbstauflösung? Ist das eine qualifizierte Mehrheit von drei Viertel etwa des Parlamentes? Oder können das weniger sein? Oder müssen es mehr sein? Und dann die zweite Frage, wenn der Antrag gestellt ist: Wer stimmt über ihn ab? Wer hat das Sagen? Drei-Viertel-Mehrheit, Zwei-Drittel-Mehrheit, was reicht aus?
Meyer: Christian Pestalozza, was ist denn Ihre Meinung? Sollten wir ein solches Selbstauflösungsrecht bekommen?
Pestalozza: Also ich würde so sagen: Es ist nicht lebensnotwendig. Wenn mehr als ein halbes Jahrhundert vergangen ist, ohne dass wir es gebraucht haben, wirklich dringend gebraucht haben, geht es auch weiter ohne dies. Und wenn ich an das Urteil von gestern denke, dann ist es doch so leicht geworden über Artikel 68 eine Auflösung zu bekommen - wenn auch nicht als Selbstauflösung, aber unter Beteiligung eben des Parlamentes -, dass man sagen könnte: Na jetzt ist es eigentlich gänzlich überflüssig geworden. Aber, die politische Diskussion ist jetzt aufgelebt und auch der Bundespräsident hat empfohlen, darüber nachzudenken. Und wenn man sich dafür entschiede, würde ich sagen, ist es auf jeden Fall unschädlich - ob es besonders nützlich ist, besonders viel hilft, nachdem der 68 eben so eine leichte Fassung jetzt bekommen hat durch das Urteil des Gerichtes, weiß ich nicht.
Meyer: Und was denken Sie, wenn wir in die Zukunft schauen? Es gibt ja jetzt viele, die sich dafür ausgesprochen haben. Es gibt auch prominente Gegner eines Selbstauflösungsrechts: Wolfgang Schäuble zum Beispiel, Otto Schily, Hans-Christian Ströbele von den Grünen. Denken Sie, dass der nächste Bundestag ein solches Selbstauflösungsrecht beschließen wird?
Pestalozza: Ich bin skeptisch und zwar aus folgendem Grund: Es werden Vorschläge gemacht werden. Es wird auch eine Initiative geben, würde ich mutmaßen. Aber Sie brauchen ja für eine Verfassungsänderung eine Zwei-Drittel-Mehrheit im Bundestag und im Bundesrat. Und jetzt kommt es darauf an, wer die Mehrheit im künftigen Bundestag haben wird und wie groß die sein wird. Sie wird mit Sicherheit nicht ausreichen, um dieses Zwei-Drittel-Quorum zu erfüllen. Man braucht also die Opposition. Und dann wird immer die Frage sein - wie bei allen Verfassungsänderungen: Was verlangt die Opposition dafür, dass sie mitzieht? Weil bei jeder Änderung, auch wenn sie die Änderung in Wirklichkeit will, wird sie sich ihren Willen, ihr Mitmachen abkaufen lassen. Das ist legitim. Und da ist die Frage: Wie hoch ist der Preis? Und davon, denke ich, wird es abhängen, ob wir so eine Selbstauflösung bekommen oder nicht.
Christian Pestalozza, dass es dieses Selbstauflösungsrecht des Parlaments bei uns nicht gibt, das wird immer wieder mit den Erfahrungen in der Weimarer Republik begründet. Alle sieben Reichstage zwischen 1920 und 1931 wurden vorzeitig aufgelöst. Allerdings hatte der Reichstag auch kein Selbstauflösungsrecht. Wie gingen denn die Parlamentsauflösungen damals vor sich?
Christian Pestalozza: Damals war es so, dass der Reichspräsident ohne besondere Voraussetzungen den Reichstag vorzeitig auflösen konnte. Die einzige Hürde, die er zu überwinden hatte nach der Reichsverfassung, war, er durfte nicht mehrmals aus dem - wie es in der Verfassung hieß - dem gleichen Anlass einen Reichstag auflösen. Aber das ließ sich leicht umgehen, indem man eben mal diesen, mal jenen Anlass genannt hatte. Und daran hat sich auch keiner gestoßen. Also es konnte ohne jede Voraussetzung, wenn der Reichspräsident das Gefühl hatte, die politischen Mehrheiten sind instabil - oder was auch immer eine Rolle spielte - oder er war mit der Reichsregierung unzufrieden, dann konnte er auflösen.
Meyer: Was ist dann genau der Unterschied zu unserer heutigen Konstruktion? Denn bei uns ist ja letzten Endes auch der Bundespräsident entscheidend.
Pestalozza: Ja, es ist aber so, dass damals niemand mitwirken musste außer dem Reichspräsidenten. Der Reichspräsident konnte das Verfahren nicht nur anstoßen, sondern er konnte selbst auflösen. Und der Reichstag selbst hatte dagegen keine Abwehrmöglichkeit. Also es kam auf Mehrheiten im Reichstag für oder gegen die Auflösung nicht an. Der einzige kleine Hemmschuh war, dass die Auflösungsanordnung des Reichspräsidenten die Gegenzeichnung des Reichskanzlers brauchte. Aber die war nicht schwierig zu bekommen, weil der Reichskanzler - anders als heute unser Bundeskanzler - nicht vom Parlament ernannt wurde, sondern vom Reichspräsidenten. Da war also ein Abhängigkeitsverhältnis, so dass die Gegenzeichnung immer geliefert wurde. Und heute ist das eben anders: Unser Bundespräsident, also gewissermaßen der Nachfolger des Reichspräsidenten, kann ja die Initiative in dem Fall gar nicht ergreifen, sondern er steht an dritter Stelle.
An erster Stelle initiativberechtigt ist bei uns der Bundeskanzler. Der kann auch nicht alleine entscheiden. Der braucht jetzt das Parlament, das muss ihm mehrheitlich das Vertrauen versagen, um das er gebeten hat - oder angeblich gebeten hat. Und dann wird eingeschaltet, wenn der Bundeskanzler daraufhin den Antrag stellt: Jetzt soll der Bundestag aufgelöst werden, dann erst kommt - sozusagen in der vierten Etappe - als drittes Organ der Bundespräsident zum Zuge. Also es ist sehr viel verwickelter und schwieriger, weil drei Verfassungsorgane zusammenspielen müssen, damit es zur Auflösung kommt, während damals praktisch nur der Reichspräsident das Sagen hatte.
Meyer: Würden Sie denn sagen: Die heutige Konstruktion sorgt für eine größere politische Stabilität? Das ist ja das Argument, das die Befürworter oft bringen.
Pestalozza: Also die Erfahrung bestätigt das. Denn wir haben zweimal eine vorzeitige Auflösung gehabt. 1983 ist es - das heißt, es war schon mal ein Misstrauensvotum: '72, dann '83 - und jetzt eben 2005. Das ist natürlich in einer mehr als 50-jährigen Geschichte sehr viel weniger als die vielen Auflösungen damals unter der Reichsverfassung. Da hat ja kein Reichstag sein normales Ende erlebt, sondern alle Reichstage sind vorzeitig aufgelöst worden, manchmal sogar mehrfach in einem Jahr. Also, das hat schon zur Stabilität beigetragen, weil eben nicht ein Verfassungsorgan das mehr in der Hand hat, sondern drei beteiligt sind.
Meyer: Christian Pestalozza, schauen wir uns das mal im internationalen Vergleich an. Österreich zum Beispiel hat ein sehr unkompliziertes Verfahren zur Parlamentsauflösung: Dort reicht schon die einfache Mehrheit, um den Nationalrat aufzulösen. Das ist zuletzt dort vor drei Jahren passiert. Wie sieht das in anderen Demokratien aus?
Pestalozza: Also, das, was Sie jetzt genannt haben, das österreichische Beispiel, das ist also die reine Selbstauflösung. Das heißt, da haben wir auch wieder nur ein Verfassungsorgan beteiligt an der Auflösung des Parlamentes, und zwar diesmal das Parlament selbst. Also das Parlament ist frei, den Freitod zu wählen sozusagen, das vorzeitige Ende zu wählen. Und kein anderes Verfassungsorgan wird beteiligt. Wir haben eine vergleichbare Lösung noch in Polen und in einigen Nachfolgestaaten der früheren Sowjetunion. Und wir haben diese Lösung ebenfalls in allen unseren deutschen Bundesländern: In allen 16 Verfassungen ist ein solches Selbstauflösungsrecht - teilweise auch mit einfacher Mehrheit - vorgesehen, teilweise allerdings mit qualifizierter Mehrheit.
Meyer: Wie sind die Erfahrungen in den deutschen Bundesländern? Wie sorgfältig wird da mit dem Selbstauflösungsrecht umgegangen?
Pestalozza: Also wir haben jetzt in den mehr als 50 Jahren alte Bundesrepublik und neue Bundesrepublik (haben) wir ungefähr ein Dutzend Landtagsauflösungen gehabt: In Berlin zweimal das Abgeordnetenhaus, in Hamburg etwas öfter, weil da die einfache Mehrheit sogar reicht, also ist es dann natürlich schneller mal so weit, dass man sagt: Wir sind in einer Pattsituation, und wir können das nur durch Neuwahlen lösen. Insgesamt - in Hessen zweimal und so weiter-, also insgesamt so etwa zwölf Mal sind die Landtage aufgelöst worden. Das ist bei 16 Ländern in mehr als 50 Jahren, ist das außerordentlich wenig. Also mein Eindruck ist, von all diesen Fällen, das ist nie missbraucht worden. Wäre ja auch merkwürdig: Warum soll ein Parlament sich frei entscheiden, früher seine Arbeit zu beenden, als der Wähler es gedacht hat? Man verliert sein Mandat, man weiß nicht, ob man ein neues Mandat wiederbekommt. Das ist schon Sperre genug. Also der Selbsterhaltungstrieb aller Abgeordneten sorgt dafür, dass damit kein Missbrauch getrieben wird. Andere Verfassungsorgane haben keine Einwirkungsmöglichkeit, weil sie sind formal nicht beteiligt.
Meyer: Deutschlandradio Kultur, wir sind im Gespräch mit dem Rechtswissenschaftler Christian Pestalozza über das Selbstauflösungsrecht des Bundestages. Christian Pestalozza, es gab in der Geschichte der Bundesrepublik zwei Anläufe, ein solches Selbstauflösungsrecht durchzusetzen: Einmal durch die Enquête-Kommission Verfassungsreform 1976 und dann noch einmal durch die Gemeinsame Verfassungskommission von 1993. Und diese beiden Kommissionen kamen immerhin mehrheitlich zu der Empfehlung, dass der Bundestag die Möglichkeit bekommen sollte, sich mit Zweidrittelmehrheit vorzeitig aufzulösen. Warum wurden diese Vorschläge nie umgesetzt?
Pestalozza: Also in den 70er Jahren lag das wohl daran - da sind eine ganze Reihe von Vorschlägen der seinerzeitigen Kommission nicht umgesetzt worden und auch das Selbstauflösungsrecht fiel dem zum Opfer. In den 90er Jahren, bei der Gemeinsamen Verfassungsreformkommission von Bundestag und Bundesrat lag es etwas anders: Die war zwar auch mehrheitlich für ein Selbstauflösungsrecht des Bundestages, aber es war nur eine einfache, knappe Mehrheit und deswegen ist das dem Bundestag, dem Plenum, und dem Bundesrat gar nicht präsentiert worden als Reformvorschlag, weil man sich vorher geeinigt hat: Wenn die Kommission nicht eine Zwei-Drittel-Mehrheit findet, dann soll es gar nicht dem Plenum vorgelegt werden. Und die Gegnerschaft erklärt sich maßgeblich daraus, dass man sich gestritten hat, hat halt gesagt: Welche Mehrheit soll eigentlich ausreichen? Also mehr eine vielleicht technische Frage: Drei-Viertel-Mehrheit, Zwei-Drittel-Mehrheit, einfache Mehrheit, wie wir es in einigen anderen Ländern ja wie gesagt auch haben? Da hat man sich nicht einigen können und dann hat man diese Dinge zurückgestellt, weil man gesagt hat: Dringlich ist es im Grunde nicht. Also es ist immer das Gefühl gewesen, es ist kein unbedingt notwendiges Instrument. Wir können später noch mal darüber in Ruhe reden und einigen uns dann vielleicht auf die richtigen Mehrheiten. Es gibt ja zwei Mehrheiten, nämlich einmal: Wer darf den Antrag stellen auf Selbstauflösung? Ist das eine qualifizierte Mehrheit von drei Viertel etwa des Parlamentes? Oder können das weniger sein? Oder müssen es mehr sein? Und dann die zweite Frage, wenn der Antrag gestellt ist: Wer stimmt über ihn ab? Wer hat das Sagen? Drei-Viertel-Mehrheit, Zwei-Drittel-Mehrheit, was reicht aus?
Meyer: Christian Pestalozza, was ist denn Ihre Meinung? Sollten wir ein solches Selbstauflösungsrecht bekommen?
Pestalozza: Also ich würde so sagen: Es ist nicht lebensnotwendig. Wenn mehr als ein halbes Jahrhundert vergangen ist, ohne dass wir es gebraucht haben, wirklich dringend gebraucht haben, geht es auch weiter ohne dies. Und wenn ich an das Urteil von gestern denke, dann ist es doch so leicht geworden über Artikel 68 eine Auflösung zu bekommen - wenn auch nicht als Selbstauflösung, aber unter Beteiligung eben des Parlamentes -, dass man sagen könnte: Na jetzt ist es eigentlich gänzlich überflüssig geworden. Aber, die politische Diskussion ist jetzt aufgelebt und auch der Bundespräsident hat empfohlen, darüber nachzudenken. Und wenn man sich dafür entschiede, würde ich sagen, ist es auf jeden Fall unschädlich - ob es besonders nützlich ist, besonders viel hilft, nachdem der 68 eben so eine leichte Fassung jetzt bekommen hat durch das Urteil des Gerichtes, weiß ich nicht.
Meyer: Und was denken Sie, wenn wir in die Zukunft schauen? Es gibt ja jetzt viele, die sich dafür ausgesprochen haben. Es gibt auch prominente Gegner eines Selbstauflösungsrechts: Wolfgang Schäuble zum Beispiel, Otto Schily, Hans-Christian Ströbele von den Grünen. Denken Sie, dass der nächste Bundestag ein solches Selbstauflösungsrecht beschließen wird?
Pestalozza: Ich bin skeptisch und zwar aus folgendem Grund: Es werden Vorschläge gemacht werden. Es wird auch eine Initiative geben, würde ich mutmaßen. Aber Sie brauchen ja für eine Verfassungsänderung eine Zwei-Drittel-Mehrheit im Bundestag und im Bundesrat. Und jetzt kommt es darauf an, wer die Mehrheit im künftigen Bundestag haben wird und wie groß die sein wird. Sie wird mit Sicherheit nicht ausreichen, um dieses Zwei-Drittel-Quorum zu erfüllen. Man braucht also die Opposition. Und dann wird immer die Frage sein - wie bei allen Verfassungsänderungen: Was verlangt die Opposition dafür, dass sie mitzieht? Weil bei jeder Änderung, auch wenn sie die Änderung in Wirklichkeit will, wird sie sich ihren Willen, ihr Mitmachen abkaufen lassen. Das ist legitim. Und da ist die Frage: Wie hoch ist der Preis? Und davon, denke ich, wird es abhängen, ob wir so eine Selbstauflösung bekommen oder nicht.