Sektlaune trotz Drogenkrieg?

Von Martin Polansky · 15.09.2010
Mexiko feiert doppelt: 200 Jahre Unabhängigkeit von Spanien und 100 Jahre Revolution. Das Land hat sich herausgeputzt. Trotzdem können die Menschen nicht vergessen, dass im Kampf gegen die Drogenmafia in den vergangenen Jahren 28.000 Menschen starben und die Situation täglich weiter eskaliert.
Es begann mit einem Schrei. So ähnlich muss es geklungen haben, als am frühen Morgen des 16. September 1810 der Pfarrer Miguel Hidalgo zum Aufstand gegen die spanischen Kolonialherren aufrief. Der Schrei gilt als Auftakt des mexikanischen Unabhängigkeitskampfes und wird jedes Jahr in der Nacht auf den 16. September wiederholt. Die mexikanischen Präsidenten rufen ihn vom Balkon des Nationalpalastes am Zocalo - dem großen Platz mitten in der Hauptstadt.

Nach dem Schrei des Pfarrers Hidalgo dauerte es freilich noch elf Jahre, bis Mexiko auch formal unabhängig wurde. Hidalgo war längst hingerichtet von den Spaniern, der Kampf war blutig. Und auch danach folgten Jahrzehnte der Wirren: Machtkämpfe zwischen Liberalen und Konservativen, diktatorische Präsidenten und ausländische Interventionen – mal standen US-Truppen in Mexikos Hauptstadt, mal schickte Frankreich Soldaten. Das Mexiko, wie wir es heute kennen, ist eigentlich erst ein Ergebnis der Revolution vor 100 Jahren - als Emiliano Zapata und Pancho Villa Demokratie und Landreform erkämpften.

Mexiko-Stadt heute – einer der größten Ballungsräume der Welt. Mehr als 20 Millionen Menschen leben hier. Zwei von ihnen sind Elvira und Octavio.

Elvira Rios Garcia, 38, ist Hausangestellte. Nach der fünften Klasse hat sie die Schule verlassen und seitdem gearbeitet. Zumeist als Hausmädchen. Elvira hat zwei Kinder, die bei der Großmutter wohnen – etwa neun Stunden entfernt mit dem Autobus. Einen Wagen hat sie nicht. Mit ihrem Mann wohnt sie einem kleinen Häuschen zur Miete. Elvira hat Mexiko noch nie verlassen.

Octavio Aguilar Valenzuela, 52, ist Unternehmensberater. Er hat an einer privaten Universität studiert, so wie seine drei Kinder auch. Alle haben ein eigenes Auto. Octavio ist geschieden und wohnt in einem großen Apartment, das er gekauft hat. Der Unternehmensberater hat ein Jahr in Spanien gearbeitet und war schon in den USA, Indien und vielen Ländern Europas.

Die Hausangestellte Elvira und der Unternehmensberater Octavio – zwei ganz unterschiedliche Mexikaner. Eins aber haben sie gemeinsam: Sie lieben ihr Land.

Elvira: "Ich finde es toll, wie schön Mexiko ist: unsere Strände, das Meer, die Ruinen, unser Kunsthandwerk. Das gefällt mir wirklich."

Octavio: "Für mich steht die kulturelle Vielfalt an erster Stelle: vom sehr Indianischen bis zum Hochmodernen. Mexiko ist einzigartig, was die Geschichte, Kultur, Erziehung, Musik - und was das Essen betrifft. Es ist ein sehr reiches Land und das macht zumindest mich sehr stolz."

Jenseits des Rio Bravo. Gringos gegen Mexikaner. Ganze Volkslieder gibt es in Mexiko über den Krieg gegen die USA. Und den Verlust des Nordens und damit rund 40 Prozent des mexikanischen Territoriums. Am 2. Februar 1848 war die Abtrennung besiegelt. Mit dem Vertrag von Guadelupe Hidalgo, einem Ort, der zum heutigen Großraum Mexiko-Stadt gehört. Die Historikerin Josefina Vazquez vom Colegio de Mexico:

"Es ist weiterhin eine offene Wunde. Wir fühlen uns als Verlierer. Aber was blieb uns denn übrig. Für viele Mexikaner ist es ein Problem anzuerkennen, dass wir nicht gewinnen konnten."

Seit 1848 ist der Norden zwar für Mexiko verloren. Aber spätestens seit dem Zweiten Weltkrieg gibt es eine Art Re-Mexikanisierung durch die Arbeit suchenden Immigranten. Gut jeder dritte Bewohner von Kalifornien ist heute Latino, in Neu-Mexiko beinah jeder zweite.

Der US-Politikwissenschaftler Samuel P. Huntington warnte bereits in seinem 2004 erschienenen Buch "Who are we" vor einer Art Kulturinvasion durch die Latinos. Viele US-Amerikaner würden die Grenze zum Süden am liebsten ganz dicht machen, damit die damals eroberten Gebiete nie mehr mexikanisch werden.

Die Hausangestellte Elvira war zwar noch nie in den USA – aber ihr Mann. Einige Jahre hat er in Chicago und Pennsylvania in Restaurants gearbeitet - als Kellner und Küchenhilfe. Sie ist froh, dass er jetzt wieder in Mexiko ist.

Elvira: "Er wollte einfach eine bessere Arbeit und bessere Bezahlung. Inzwischen hat er sich wieder an Mexiko gewöhnt und will nicht mehr zurück. Außerdem hat er jetzt Arbeit in einer Firma für Wasserreinigungsgeräte. Aber richtig glücklich ist er nicht, denn das Geld reicht einfach nicht."

Die Meldungen machen Angst und sind manchmal kaum zu glauben. Etwa die über die Mörder im Dienstwagen. Eine Feier war gerade im vollen Gang in Torreón, im Norden Mexikos, als plötzlich Autos hielten und geschossen wurde. 17 Menschen starben im Kugelhagel.

Und die Mörder fuhren wieder davon - in ihren Dienstwagen. Die Hintergründe der Tat verschlugen selbst den vom Drogenkrieg gebeutelten Mexikanern die Sprache. Die Täter von Torreón waren Gefängnisinsassen, die von der Direktorin der Anstalt losgeschickt wurden, um für ein Drogenkartell zu töten. Freigang auf mexikanisch.
Es ist ein schwer fassbarer Krieg, der da tobt, sagt der mexikanische Schriftsteller und Journalist Juan Villoro:

"Es gibt keine Fronten, kein Hinterland. Keiner weiß, wo der Feind sitzt und wen er infiltriert hat. Die Regierung hat dazu keine ernsthaften Untersuchungen in den eigenen Reihen durchgeführt. In den letzten vier Monaten wurden neun Bürgermeister ermordet, die offensichtlich nicht mit den Drogenkartellen paktieren wollten. Sie waren damit schutzlos."

Das Drogengeschäft verspricht Milliardengewinne. Die Nachfrage nach Kokain und Marihuana ist vor allem in den USA riesig, aber auch in Mexiko gibt es viele Konsumenten. Chapo Guzman, der Chef des sogenannten Sinaloa-Kartells, ist laut Forbes-Liste einer der 100 reichsten Männer der Welt. Die Drogenkartelle sind bestens ausgerüstet mit Waffen – in vielen Regionen Mexikos haben sie Einfluss auf Politik, Polizei und Justiz.

Staatschef Felipe Calderon traut den örtlichen Behörden nicht – auch deshalb hat er 50.000 Soldaten in Bewegung gesetzt, im Kampf gegen die Kartelle. Aber nachhaltige Erfolge sind nicht zu erkennen. Stattdessen gibt es jedes Jahr mehr Tote. Und Calderons Reden klingen inzwischen wie Durchhalteparolen:

"In diesem entscheidenden Moment müssen wir unsere Reihen schließen, müssen verstehen, dass die Kriminellen unsere Feinde sind. Alle staatlichen Instanzen und die Gesellschaft müssen dazu beitragen, dieser Geißel ein Ende zu setzen."

Aber der Drogenkrieg eskaliert – und eine Lösung scheint nicht in Sicht. Manche fordern, Drogen schrittweise zu legalisieren, um wenigstens in Mexiko das Geschäft für die illegalen Kartelle zu erschweren, ihren Gewinn zu verringern. Andere glauben, dass erst wieder Ruhe einkehrt, wenn der Staat den Krieg gegen die Drogenkartelle aufgibt. Eine Art Waffenstillstand. Nach dem Motto: Der Staat lässt die Drogenbanden in Ruhe ihre Geschäfte machen - und die bringen dafür weniger Leute um.

Der Kampf gegen die Drogenkartelle im eigenen Land lässt auch Elvira und Octavio nicht kalt – die Hausangestellte und den Unternehmensberater. Aber beide wohnen in Mexiko-Stadt, weit weg vom Drogenkrieg, unter dem vor allem der Norden des Landes leidet. Octavio und Elvira fühlen sich daher sicher:

Elvira: "Ich habe keine Angst. Hier ist alles ruhig. Klar hört man immer wieder, dass es gefährlich ist. Gerade für die Leute, die versuchen, in die USA zu kommen. Mein Mann sagt mir manchmal, dass er wieder zurück möchte. Aber ich bin dagegen, es ist viel zu gefährlich. Erst kürzlich haben sie ja viele Migranten umgebracht."

Octavio: "Ich fühle mich absolut sicher und mache das Gleiche wie vor einem Jahr, einem Monat, einer Woche. Ich reise durch das Land wie immer und werde es auch weiterhin tun. Du musst nur wissen, wie du dich bewegst. In meinen 52 Jahren haben sie mir hier noch nicht einmal den Geldbeutel gestohlen. In anderen Ländern schon: in Europa, in den USA, in Südamerika aber noch nie in Mexiko."

Guadelupe in Mexiko-Stadt. Einer der größten Wallfahrtsorte der Welt. In die moderne Kathedrale passen etwa zehntausend Gläubige. An Sonntagen ist hier jede Stunde Gottesdienst. Und die riesige Kirche ist immer voll.

Manche Gläubige bewegen sich auf Knien über das Gelände – vor Ehrfurcht. Priester weihen von kleinen Bühnen aus gekaufte Jesus-Bilder oder Marienstatuen. Mexiko ist eines der größten Länder der katholischen Welt.

Aber in dem vermeintlich so katholischen Land hat sich einiges geändert – abzulesen an den Familien. In den Sechzigerjahren war das Familienbild noch eine klare Sache. Heirat mit 16 oder 18, im Schnitt sieben Kinder, der Mann ging arbeiten, die Frau kümmerte sich um die Kleinen. Und die Kirche war die moralische Institution. Heute ist vieles anders.

MexFam in Mexiko-Stadt, eine Organisation für Familienplanung. Ofelia Aguilar ist die nationale Projektleiterin.

"85 Prozent der Mexikaner sind katholisch, aber 70 Prozent benutzen inzwischen Verhütungsmittel. Das zeigt, dass sie wohl nicht so konservativ sind, sondern versuchen, selber zu bestimmen, ob und wann sie Kinder haben wollen. Wenn all diese Leute nicht mehr in die Messe dürften, dann wären die Kirchen wohl leer."

Tatsächlich zeigt die Familienplanung in Mexiko Wirkung. Die Geburtenzahlen sind drastisch zurückgegangen, das früher steile Bevölkerungswachstum ist deutlich abgebremst. In den Städten bekommen die Frauen heute im Schnitt 1,8 Kinder, auf dem Land noch um die vier.

Und: Viele Frauen erziehen ihre Kinder inzwischen alleine. Sei es, weil der Mann in den USA arbeitet und nur ab und an zu Besuch kommt. Oder weil sich die Frauen von den Vätern getrennt haben. Das Frauen- und Familienbild ist also im Wandel. Aus Sicht des mexikanischen Weihbischofs Jonas Guerrero Corona eine schlechte Entwicklung:

"Vor 30 Jahren wurde gesagt, die kleine Familie lebt besser. Aber das war ja wohl eine Illusion. Auch die kleine Familie muss arbeiten und kämpfen. Es ist weder für große noch für kleine Familien leicht. Aber in der großen Familie gibt es mehr Zusammenhalt, mehr Gemeinsinn und eine gesündere Entwicklung als in einer kleinen Familie."

Traditionen und Werte bewahren. Vehement verteidigt der Klerus sein Nein zu Verhütungsmitteln. Und als Tabubruch kritisiert er zwei neue Gesetze in Mexiko-Stadt. Dort sind Abtreibungen bis zur zwölften Woche jetzt legal und Homosexuelle können heiraten. Die Kirchenführung läuft Sturm gegen die Homo-Ehe.

Neue Familienbilder, andere Lebensweisen. Auch in Mexiko sieht sich die katholische Kirche mit dem Wertewandel konfrontiert - die Gottesdienste sind trotzdem immer noch voll.

Die Hausangestellte Elvira und der Unternehmensberater Octavio glauben beide an Gott und sind katholisch. Trotzdem spielt die Kirche für die zwei Mexikaner eine ganz unterschiedliche Rolle:

Elvira: "Ich gehe gerne in die Kirche. Ich bin katholisch, vielleicht nicht hundertprozentig, aber zu 70 oder 80 Prozent schon. Es gefällt mir, in der Kirche mitzumachen, Gebetszirkel finde ich gut. Ich glaube an die Heiligen und an den lieben Gott."

Octavio: "Die Kirche hat an Glaubwürdigkeit verloren, weil sie sich nicht an die Zeiten anpasst. Ihre Botschaft hat nichts mit der Realität auf der Welt oder in Mexiko zu tun. Sie mischen sich auch in nebensächliche Themen ein, etwa die Diskussion über Homo-Adoptionen. Ich fühle mich sehr entfernt von der Kirche."

200 Jahre Mexiko - mit dem Blick zurück auf den Auftakt der Unabhängigkeit feiert sich das Land nun selbst. Mexiko taucht ein in die grün-weiß-rote Trikolore. Schulfrei für die Kinder, Feiertage für die Erwachsenen. Und in der Nacht auf Donnerstag kommen die Menschen auf den Plätzen des Landes zusammen - um den Schrei zu hören. Viva Mexico.