Sehnsucht nach Freunden

Von Mona Naggar |
Fast eine halbe Million syrische Flüchtlinge hat das Flüchtlingswerk der Vereinten Nationen UNHCR im Libanon registriert. Die libanesische Regierung geht von über einer Million aus, ungefähr die Hälfte davon Kinder und Jugendliche. Nur mühsam schaffen sie es, sich in der neuen Umgebung einzuleben.
Shuruq schreibt mit einem Filzstift ein großes und ein kleines A an die Tafel. Anschließend liest sie die Buchstaben laut vor. Die Kinder sprechen ihr nach.

Die Erzieherin ist eine zierliche junge Frau mit blauen Augen. Sie trägt ein beiges Kopftuch und einen passenden hellen Mantel dazu. Früher war sie Pädagogikstudentin an der Universität von Idlib, einer Stadt im Nordwesten Syriens.

Der Krieg hat ihre Familie zur Flucht in den Libanon gezwungen. Seit vergangenem Herbst lebt die 20-Jährige in Beirut. Ein Interview will sie nicht geben. Aus Angst, ihren Bruder und Vater zu gefährden. Beide werden vom syrischen Geheimdienst gesucht, weil sie sich an Demonstrationen gegen Assad beteiligt haben.

Seit Oktober arbeitet Shuruq in einem neu gegründeten Kindergarten im Stadtteil Sabra. Sie ist froh, etwas Geld zu verdienen und als Erzieherin Erfahrungen sammeln zu können. 45 syrische Kinder im Vorschulalter werden hier betreut.

Kindergarten für Flüchtlinge
"Die meisten syrischen Flüchtlinge, die in der näheren Umgebung unseres Kindergartens leben, kommen aus ländlichen Gebieten und aus der Peripherie großer Städte, aus Dörfern rund um Aleppo, aus Maara im Westen oder aus Deraa, im Süden Syriens."

Sagt Rami Slaiman, einer der Gründer des Kindergartens. Der 35-Jährige kommt aus Damaskus und lebt seit über einem halben Jahr in Beirut. In Syrien hat der etwas rundliche Mann als Buchhalter gearbeitet. Nach seiner Flucht begann er, sich in der Flüchtlingshilfe zu engagieren. Amaluna", "Unsere Hoffnung" heißt der von Flüchtlingen für Flüchtlinge gegründete Kindergarten. Finanziert wird er von privaten Spenden.

"Wir versuchen mit kleinen Projekten syrische Flüchtlinge in Beirut zu helfen. Auf diese Weise haben wir die Lebensumstände der Menschen in Sabra kennengelernt. Anfangs wollten wir einfach einen Platz zum Spielen für Kinder aufbauen. Daraus entstand dann der Kindergarten. Unser Ziel ist es, die Kinder aus der gespannten Atmosphäre und den sehr beengten Wohnverhältnissen zuhause für einige Stunden herauszuholen. Hier können sie einfach nur spielen und nebenbei etwas lernen. Oft möchten sie dann gar nicht mehr nach Hause."

"Amaluna" liegt an einer belebten Kreuzung am Rand des Beiruter Stadtteils Sabra. Hier beginnt die quirlige schmale Hauptstraße, die sich jeden Morgen in einen lebendigen, bunten Markt verwandelt.

Auf beiden Seiten der Straße stehen Holzkarren mit Bergen von Tomaten, Paprika, Aubergine oder Äpfel – mit deutlich niedrigeren Preisen als woanders in Beirut. Hinter den Obst- und Gemüsekarren verläuft ein enger Bürgersteig, dann eine Reihe von kleinen Läden, die Kleidung, Haushaltswaren oder Lebensmittel verkaufen.

Wohnungen sind winzig und feucht
Über der Straße sind unzählige bunte Elektrizitätsleitungen gespannt. Die drei bis vier stöckigen Häuser machen einen provisorischen und nicht besonders stabilen Eindruck. An den Straßenecken türmt sich Abfall. Es stinkt nach Müll und Abwasser.

Von der Hauptstraße zweigen einige enge dunkle Gassen ab. Wie Schuhkartons reihen sich dort kleine Wohnungen nebeneinander oder stapeln sich übereinander. In einer dieser Gassen liegt Nabila Ibrahims Zweizimmerwohnung

"Ich bin in Sabra geboren und aufgewachsen. Ich bin Palästinenserin, wie viele hier. Die Situation der Menschen in unserem Viertel ist sehr schwierig. Viele sind arbeitslos oder gehen einer schlecht bezahlten Arbeit nach. Die Wohnungen sind winzig, feucht, oft kommt keine Sonne rein."

Sabra und das benachbarte Shatila gehören zu den ärmsten und am dichtesten bevölkerten Stadtteile in Beirut. Shatila entstand als provisorisches Lager für Flüchtlinge aus Palästina. Jahrzehnte später ist es mit dem Nachbarviertel zusammen gewachsen, macht aber bis heute einen provisorischen Eindruck. Zu trauriger Berühmtheit gelangten beide Stadtteile 1982. Israelische Truppen, die damals Westbeirut besetzt hatten, riegelten Shatila und Sabra ab. Christliche Milizen, eine der Parteien im libanesischen Bürgerkrieg, betraten die Gebiete und metzelten unbewaffnete Bewohner nieder.

Nabila ist eine große schlanke Frau. Sie trägt Jeanshemd, Jeanshose und ein hellblaues Kopftuch. Die Wohnung der energischen 47-Jährigen ist zu einer Anlaufstelle für syrische Flüchtlinge in Sabra geworden. Nachbarn geben bei ihr Kleidung, Windeln oder Lebensmittel ab und sie gibt alles weiter.

"Ich habe viel mit syrischen Familien in Sabra und Umgebung zu tun und habe gesehen, wie es den Kindern und Jugendlichen geht. Viele sitzen einfach nur herum, gehen nicht in die Schule oder in den Kindergarten. Die libanesischen Einrichtungen oder die Einrichtungen der Vereinten Nationen sind sowieso schon überfüllt."

Bis heute leben in Sabra und Shatila Palästinenser und Libanesen, die sich woanders in der libanesischen Hauptstadt keine Wohnung leisten können. Dazu gekommen sind Migranten aus Sri Lanka oder Bangladesch und immer mehr Syrer, wie Um und Abu Wajdi mit ihren beiden Söhnen.

Sparen für Essen und Medikamente
Heute leben sie in Shatila für 220 Dollar im Monat in einem feuchten Zimmer, mit bröckelndem Putz, winzigem Bad und Küche. Ihre Wohnung in Damaskus ist bei Kämpfen zerstört worden. Alles, was sie einmal besaßen, ist weg:

"Das wichtigste ist im Moment, genug Essen für die Kinder zu besorgen, das Zimmer mit dem Notwendigsten einzurichten und Medikamente für meinen Jüngsten zu bekommen, der an einer Blutkrankheit leidet. In Syrien war alles billiger und es war leichter für uns, Medikamente zu bekommen."

Sagt Um Wajdi, eine zierliche Frau mit langen schwarzen Haaren. Derart lebenswichtige Dinge sind nicht mehr selbstverständlich für die 43-Jährige und haben im Leben der Familie im Moment Priorität. Auch deshalb gehen seit über einem Jahr ihre Kinder Taufiq und Wajdi nicht mehr in die Schule:

"Den ganzen Tag lang mache ich nichts, ich sitze nur herum. Noch nicht mal einen Fernseher haben wir. Freunde habe ich auch keine. Ich fühle mich hier nicht wohl."

Wie dem 15-jährigen Wajdi geht es vielen syrischen Kindern und Jugendlichen, die mit ihren Familien in den Libanon geflüchtet sind: Die Eltern sind überfordert und damit beschäftigt, das Notwendigste zu organisieren. Die Hilfe, die internationale Organisationen bieten, reicht bei weitem nicht aus. Einem Bericht des Kinderhilfswerks der Vereinten Nationen vom April zufolge gehen 30.000 syrische schulpflichtige Kinder im Libanon in die Schule. Das ist nur ein Viertel aller schulpflichtigen Flüchtlingskinder.Ein Problem nicht nur für die Familien, meint Rami Slaiman:

Resignation und Apathie macht sich breit
"Wir möchten gerne mehr junge Syrer beschäftigen und für sie Alternativen finden. Dieses Herumlungern ist gefährlich. Es besteht sonst die Gefahr, dass sie sich bewaffneten Gruppen anschließen. Nicht unbedingt, weil sie an die Ideen dieser Gruppen glauben, sondern einfach aus Langeweile oder um von ihrer Umgebung geachtet oder als Helden respektiert zu werden. Unter vielen jungen Syrern hat sich bereits Resignation und Apathie breit gemacht."

Nicht so bei Rana Haidar. Die 25-Jährige ist auf dem Weg zur Arbeit. Die Palästinenserin aus Syrien hat zwei Jobs. Am Vormittag arbeitet sie für einen palästinensischen Verein in Sabra, der auch syrische Kinder betreut, am Nachmittag in einem Sozialzentrum in Shatila. Auch für den Kindergarten "Amaluna" hat Rana einige Monate gearbeitet:

"In Syrien habe ich auch schon gearbeitet. Aber das war damals eher, um Erfahrungen zu sammeln. Hier muss ich für unseren Lebensunterhalt sorgen.Ich bin die älteste meiner Geschwister, ich habe noch zwei Brüder. Wir müssen 300 Dollar pro Monat an Miete zusammen kriegen. Für libanesische Verhältnisse mag das vielleicht nicht viel sein, aber für uns schon. Hinzu kommen Essen und Medikamente für meine Mutter."

Rana wäre dieses Jahr mit ihrem Sozialpädagogikstudium in Damaskus fertig geworden. Aber der Krieg kam dazwischen. Zurückgelassen hat sie ein komfortables Leben. Ihrem Vater gehörten mehrere Geschäfte. Seit einigen Monaten ist er verschwunden. Die Familie weiß nicht, ob er noch am Leben ist. Die junge Frau mit dem Pagenschnitt und den geschminkten Augen lässt sich die Sorge um ihn nicht anmerken. Sie erzählt von ihren vielen neuen Bekanntschaften, die sie in den letzten Monaten gemacht hat. Auf diesem Weg hat Rana ihre Arbeitsstellen gefunden:

"Meine Mutter hat uns so erzogen. Niemand soll auf sein Glück warten, sagt sie immer, sondern man muss selber zugreifen. Es ist schon komisch, wo wir gelandet sind? Wir sind Flüchtlinge, die bei anderen Flüchtlingen hier in Shatila untergekommen sind (lacht). Die Menschen haben uns herzlich aufgenommen, aber sie haben sicher auch Probleme mit uns. Wir nehmen ihnen schließlich Arbeit weg."

Leben aus der Erinnerung
Rana sitzt im Büroraum des Sozialzentrums in Shatila.Hier hilft sie bei der Hausaufgabenbetreuung für palästinensische und libanesische Schüler. Auch einige Syrer trauen sich inzwischen ins Zentrum:

"Bei den Gesprächen mit syrischen Jugendlichen habe ich festgestellt, dass die meisten in ihrer Erinnerung leben. Sie erzählen von früher, von ihren Sachen, von ihrer Wohnung, von ihrem Viertel. Mein 12-jähriger Bruder gehört auch zu ihnen. Er weigert sich, hier in die Schule zu gehen und sagt, dass er nur in Damaskus die Schulbank drücken will. Er fragt ständig nach seiner alten Schule und nach seinen Freunden."

Ähnlich geht es Ubaida und Amal. Wenn die Geschwister von ihrem früheren Leben in Syrien erzählen, das erst fünf Monate zurückliegt, dann vermissen sie am meisten ihre Freunde. Die 13-jährige Amal versucht über Facebook den Kontakt zu ihren Schulfreundinnen zu halten:

"Ich versuche jeden Tag, eine halbe Stunde ins Internet zu gehen. Ich chatte dann mit meinen Freudinnen. Aber das klappt nicht immer, weil ich das von meinem Taschengeld bezahlen muss und ich nicht immer Geld habe. Eine Stunde kostet im Internetcafé 1000 Libanesische Lira."

Amals neues Zuhause ist ein Zimmer in einem Kulturzentrum, das zu einer Unterkunft für Flüchtlinge umfunktioniert wurde. Auf dem Boden liegen ein grauer Teppichboden und dünne Schaumgummimatratzen. Ein Gaskocher in der Ecke ist die provisorische Küche. Toilette und Bad teilt sich die fünfköpfige Familie mit anderen Flüchtlingen aus Syrien.

Amal beklagt sich zwar über die Mädchen in der Nachbarschaft, mit denen sie nicht warm wird. Aber ein wenig Fuß fassen in ihrer neuen Umgebung konnte sie dennoch:

"Ich kenne mich in den Straßen des Viertels schon gut aus. Wenn meine Mutter mich zu einem Laden schickt, um etwas zu kaufen, dann verlaufe ich mich nicht."

"In Syrien ist natürlich alles besser"
Jeden Mittag führt Amal ihren Zwillingsbruder Ubaida quer durch die labyrinthartigen Gassen zu ihrer neuen Schule. Der Unterricht beginnt um ein Uhr Mittag.

"Ich habe mich schon etwas an die Schule gewöhnt. In Syrien ist natürlich alles besser. Aber hier habe ich einen neuen Freund gefunden. Er ist Syrer und heißt Umran. Er arbeitet auf dem Bau und geht schon lange nicht mehr in die Schule. Wir sind einmal zusammen ans Meer gegangen. Nur er und ich. Wir haben uns durchgefragt. Der Weg war lang, aber wir haben es geschafft."

Die Geschwister Ubaida und Amal wünschen sich, dass der Krieg in Syrien aufhört, damit sie ihre beengte Unterkunft verlassen und nach Damaskus zurückkehren können. Ob ihre Wohnung noch steht, wissen sie nicht.

Die Sozialpädagogikstudentin Rana Haidar würde dagegen am liebsten auswandern. Immer wieder informiert sie sich in westlichen Botschaften über die Möglichkeit für syrische Flüchtlinge aus dem Libanon raus zu kommen. Rami Slaiman, Mitbegründer des Kindergartens Amaluna, wirkt ratlos. Spenden für seine Projekte zu sammeln wird immer schwieriger. Slaiman hat zunehmend das Gefühl, sich in einer Sackgasse zu befinden:

"Ich wohne in einer WG mit fünf Freunden. Nur zwei von uns haben eine feste Arbeit. Einige haben keine Papiere, andere sind ständig unter Strom, weil sie ihre Eltern in Syrien nicht erreichen können. Sie machen sich wahnsinnige Sorgen. Abends führen wir offen Diskussionen über unsere Zukunft. Was sollen wir machen? Bleiben? Nach Syrien zurückkehren oder versuchen, nach Europa zu kommen. Aber wie? Es ist fast aussichtslos, ein Visum zu bekommen. Also dann doch über Schmuggelwege. Und so weiter und so fort. Wir sind innerlich ziemlich zerrissen."