Sehnsucht nach der Unschuld der Kindheit

Von Kim Kindermann |
Eigentlich wollte Jan Böttcher Musiker werden. Im Kinderzimmer spielte er Gitarre und reimte dazu Liedtexte. Ende der 90er Jahre gründete er mit Freunden die Band "Herr Nilsson", doch der ganz große Durchbruch gelang ihm mit der Literatur. Jetzt erscheint Jan Böttchers neues Buch "Nachglühen".
"Das Haus", so der Titel dieses Songs. Es ist ein Song unter vielen. Ein Text in einer ganzen Reihe von Gedichten, Geschichten und Erzählungen, die Jan Böttcher seit Jugendtagen schreibt. Damals, als er aus Frust und Lust anfing, mit Wörtern zu spielen. Als Bob Dylan sein Held war und die Gitarre selbstverständlich dazugehörte. Aus den Wörtern wurden Sätze, Texte, Reime, Gedichte und dann schließlich Lieder.

"Das kam erst in Berlin. Ich bin hierhergekommen 1993 und habe da einen Jugendfreund von mir wieder getroffen, der hier anfing, Architektur zu studieren, und mit dem habe ich in einer Nachtsession, nee, zwei Tage waren es schon, bei ihm in der Wohnung das ganze Material durchgeforstet, und zu allem, wo uns was einfiel, haben wir Lieder gemacht."

Musiker werden und davon leben können, das ist der große Traum des damals 20-jährigen Lüneburgers. Im Berlin der 90er Jahre scheint das möglich zu sein. Der Student der deutschen und skandinavischen Literatur taucht ein in dieses Leben, probiert sich aus. 1998 gründet er schließlich gemeinsam mit Freunden die Band "Herr Nilsson".

"Also, die Kreativität war am Anfang wahnsinnig groß. Die erste Platte ergab sich wie von selbst, die war schon als Text von mir da, die haben wir nur noch vertonen müssen. In der Küche haben wir die aufgenommen."

Die Zeichen stehen auf Erfolg. Der mittelgroße, jugendliche Mann mit den braunen Wuschelhaaren und dem struppigen Vollbart scheint groß rauszukommen. Einen Sprung aus dem kleinbürgerlichen Sparkassen-Haushalt rein ins pralle Musikbusiness zu machen. Denn alles scheint plötzlich möglich: Die Konzerte von Herr Nilsson sind ausverkauft!

"2003 war dann der Knackpunkt: Das war die vierte Platte da und ein großes Konzert im Kesselhaus, über tausend Leute, und auch bundesweit war das erste Mal Interesse da, wir waren nicht mehr nur eine Berliner Band, und dann ist der Kontrabassist abgesprungen. Ich weiß nicht, ob er Angst vor Erfolg hatte. Ich kann es nicht sagen. Wir sind heute noch immer gut befreundet, aber er hat mit 35 Jahren angefangen, Psychologie zu studieren. Er wollte überhaupt keine Musik mehr machen."

Zwei Jahre probiert die Band noch, ohne ihren Bassisten weiterzukommen, doch die Chemie stimmt nicht mehr.

"Das ging allen so, dass wir uns nur noch austoben. Das braucht die Welt jetzt nicht mehr! Das ist ja Deutschrock!"

Cut! Aus der Traum. Frustriert heuert Jan Böttcher in einer Agentur an: Bier- und Wasserwerbung bestimmen fortan sein Leben. Wäre da nicht die Literatur. Klammheimlich, wie es scheint, hat sie sich ihren Platz in Jan Böttchers Leben erschlichen: Anstelle von Liedern schreibt er jetzt Erzählungen. Veröffentlicht sie auch: Lina oder: Das kalte Moor, so der Titel seines ersten Buches. Und wieder hat dieser überaus sympathische Mann Erfolg, erhält Preise und Stipendien. Nimmt sogar am Wettbewerb um den Ingeborg-Bachmann-Preis teil.

"Da saß ich da, hatte schon fast ein Jahr eine Festanstellung, und ich konnte es auch eigentlich nicht mehr aushalten, und dann habe ich mit dem ersten Buch einen Preis gewonnen, ein Stipendium, Märkisches Stipendium im Sauerland für ein Jahr, plötzlich Geld bekommen - und dann tschüss, Werbung, erst mal."

Nur eine Woche später nimmt ihn der Rowohlt Verlag unter Vertrag, und das, obwohl sein Skript zu seinem ersten Roman nicht länger als fünfzig Seiten ist. 2006 schließlich erscheint das von der Kritik hochgelobte Buch: "Geld oder Leben" ist eine Art modernes Roadmovie. Es ist die Geschichte von Karl, 21 Jahre alt, der vorbestraft ist, weil er seine Mutter an ihrem Sparkassenschalter überfallen hat, und nun unterwegs ist, seinen Großvater zu beerdigen. Eine skurrile Geschichte, in der es um Liebe, um Ost und West, um Schuld und Sühne und um Lüneburg und die Sparkasse geht. Letzteres trägt autobiografische Züge, gesteht der Autor. Seine Eltern waren beide Bankangestellte.

"Diese Sehnsucht der Protagonisten nach der Unschuld der Kindheit und Jugend, die ist - glaube ich - absolute Grundbedingung bei mir. Ich kann mir kaum Figuren vorstellen, die das nicht haben. Das sehe ich schon."

Songwriting ist eben doch eine Leidenschaft dieses Mannes, der sich selbst als überaus freundlich beschreibt und nebenbei so ungestüm Fußball spielt, dass er jetzt wegen einer Knieverletzung eine Zwangspause machen muss. Aber selbst die nutzt der heute 34-Jährige, der mit seiner Freundin Meike, einer Lektorin, in Berlin-Pankow lebt, um weiterhin verdammt gute Bücher und Lieder zu schreiben!