Sehnsucht nach der See

Ausgehend von zwei Freundinnen erzählt der in Zürich lebende Autor Tim Krohn eine verzwickte Liebes- und Unglücksgeschichte. Sie zeigt, wie schwer es ist, Verdrängtes von sich abzuschütteln.
Der elfjährige Jens ist das emotionale Zentrum des neuen Romans von Tim Krohn: "Ans Meer". Wieder, wie in seinen vorangegangenen Büchern, ist es ein Haus, diesmal nicht in den Schweizer Bergen, sondern an der Ostsee unweit von Kiel, das als Sehnsuchts- und Geborgenheitsmetapher eingesetzt ist. Dort, in Lütjenburg, haben Josefa und Anna, zwei unzertrennliche Freundinnen, eine herrliche Kindheit verbracht, herrlich bis zu dem Tag, als Josefas Mutter merkt, dass ihr Mann mit Josefas Freundin Anna eine Affäre hat.

Dieses schwarze Datum liegt als unausgesprochener Fluch über Tim Krohns verwickelter Familiengeschichte, in der sich uneingestandene Schuld und die Unfähigkeit zu trauern miteinander verknüpfen. Josefas Mutter ertrinkt im Meer, Josefa flieht, wird von einem Italiener schwanger, zieht Jens, ihren Sohn, in Zürich groß, wo sie in einer Autovermietung jobbt. Anna lebt in Kiel, ist Psychologin, wünscht sich ein Kind und erfährt durch Zufall, dass ihr Freund zeugungsunfähig ist.

Tim Krohn beschreibt mit Verve und Zuneigung in einfachen, von viel direkter Rede durchzogenen Sätzen die innige, lustige und spielerische Beziehung zwischen Josefa und ihrem Sohn Jens, schildert das Leben einer liebevollen und chaotischen Frau, die ihrem Sohn jeden Wunsch erfüllen möchte, wie zum Beispiel eine Reise ans Meer. Jens ist ein erstaunliches Kind, in Vernunftdingen seiner Mutter überlegen. Als man ihn einmal fragt, was er werden möchte, sagt er: "erwachsen". Tim Krohn macht aus Jens keinen altklugen, aber einen erstaunlichen Jungen, der mit seinen elf Jahren eigentlich gar kein Kind mehr ist.

Im Mittelpunkt des zweiten Teils des Romans steht die zutiefst unglückliche, von Schuldgefühlen niedergedrückte und emotional gebremste Anna. Tim Krohn verdeutlicht in dieser verzwickten Liebes- und Unglücksgeschichte, wie schwer, wie unmöglich es ist, Verdrängtes von sich abzuschütteln. Erst, sagt der Autor, müssen sich die Verhältnisse klären, bevor ein neues Lebenskapitel begonnen werden kann. Tim Krohn scheut weder ein relatives Happy End noch die deutliche moralische Unterweisung. Auch macht er klar, dass Kinder die Kraft haben, jedenfalls hat Jens sie, zu erkennen, welches der richtige Weg für sie ist.

Tim Krohn erzählt seine Familien- und Freundesgeschichte als komplexes Beziehungsgeflecht. Es ist ein eingängiger, psychologisch genauer und leicht lesbarer Roman, der sich vor trivialen Einschüben nicht fürchtet. Anrührend zu beobachten, wie stark der Autor eine Lanze für den alten Begriff der "Heimat" bricht, die, so Krohn, der Mensch braucht, um seine eigene Geschichte, seine Erinnerungen einzulagern und von dort in die Zukunft zu sehen. Tim Krohn möchte, dass seine Geschichte zu Herzen geht, und das tut sie.

Besprochen von Verena Auffermann

Tim Krohn: Ans Meer. Roman
Verlag Galiani Berlin, 2009
303 Seiten, 19,95 Euro