Sehnsucht nach dem ganz Anderen

12.04.2005
Wie in Andreas Maiers Romanen aus der Provinz "Wäldchestag" und "Klausen" gibt es in seinem neuen Buch "Kirillow", das in Frankfurt am Main spielt, fast nur Gerede. Aber erstmals leidet eine Figur daran und will das Geschwätz hinter sich lassen. "Kirillow" erzählt von der Sehnsucht nach dem ganz Anderen.
Das verheißen bereits die geistigen Getränke, die die Personen des Romans in großen Mengen konsumieren. Ständig bedröhnt ziehen die Studenten, die nicht studieren, zusammen mit Russlanddeutschen und deren Besuch durch Frankfurter Kneipen, Wohnungen und Straßen. Einer von ihnen ist der 22-jährige Julian Nagel, der auf der Geburtstagsfeier seines Vaters, eines hessischen Landtagsabgeordneten, einen Unbekannten provoziert. Bevor es zu einem Handgemenge kommt, tritt Frank Kober dazwischen und schneidet sich mit einem abgebrochenen Sektglasstiel den Unterarm auf. Kober erklärt seine Handlung nicht und lässt die bürgerliche Gesellschaft ratlos zurück, doch Julian ist fasziniert. Endlich scheint die ewige Wiederholung derselben Meinungsäußerungen unterbrochen, dieser "Unterhaltungsmechanismus", wie es Kober nennt.

Julian sucht nach weiteren Unterbrechungen und begeistert sich für das zivilisationskritische Traktat eines gewissen Kirillow, der - soviel ist seinem Gerede darüber zu entnehmen - den Massenmenschen und seinen Konsum für monströs hält. Mit Kirillow verweist Andreas Maier auf eine Figur in "Die Dämonen", mit dem Traktat setzt er sich von Dostojewski ab. Denn während sich bei dem russischen Schriftsteller gläubige Väter und eine westliche, "nihilistische" Jugend gegenüberstehen, ist bei Maier die ganze Gesellschaft in denselben Sprachspielen gefangen. Die bürgerliche Gesellschaft ist ebenso wie die protestierende Jugend Teil des Systems. Aus ihm heraus scheint nur das Ende des Massenmenschen zu führen.

Daher unternimmt Julian bei Protesten gegen die Castor-Transporte in Gorleben eine Amokfahrt mit einem Traktor, um sich von der Polizei erschießen zu lassen. Statt seiner wird unabsichtlich Kober getötet. Bald darauf stirbt eine Rentnerin, die Kober und seine Freundin jahrelang gepflegt hatten. Beide Tode unterbrechen den "Unterhaltungsmechanismus" nicht. Aber Kobers fraglose Fürsorge für eine alte Dame ist das Gegenmodell zu Julians narzisstischer Welterlösungsfantasie. Mit ihr erscheint in Andreas Maiers ungemein stilsicherem Geschwätzuniversum eine vorsprachliche Verständigungsebene. Endlich löst er sich vom Übervater Thomas Bernhard. Das zeigen auch die gelegentlichen Auftritte des allwissenden Erzählers, den es in einer Welt aus Gerede eigentlich nicht geben dürfte. "Kirillow" ist ein Roman des Übergangs, ein überraschend heiterer.

Andreas Maier: Kirillow
Roman
Suhrkamp Verlag. Frankfurt am Main 2005
350 Seiten
19,80 Euro