Seemännische Trinksitten

Rezensiert von Susanne Billig |
Rolf-Bernahrd Essigs Kulturgeschichte seemännischer Trinksitten bietet einen Streifzug durch die Geschichte der Meere und der Menschen, die mit ihnen umgehen: von Odysseus über Entdecker und Piraten bis zu heutigen Kapitänen und Kreuzfahrtpassagieren. Das Vorurteil vom trinkenden Seemann entlarvt er als Mythos, indem er Alkohol-Grenzwerte vergleicht oder einen Seemannsdiakon befragt.
Uralt ist der Mythos von den saufenden Seeleuten: Schon Homer lässt seinen Seefahrer Odysseus reichlich trinken und spricht in seinen Epen an vielen Stellen nicht von ungefähr vom "weinfarbenen Meer". Der griechische Gott des Meeres selbst, Dionysos, steht nicht nur mit den wogenden Fluten, sondern auch mit dem Rausch, der Ekstase und den diversen Rauschmitteln, die den Griechen zur Verfügung standen, in innigster Verbindung.

"What shall we do with the drunken sailor?" heißt eines der wohl bekanntesten Seemannlieder. Es besingt in vielen Strophen die Möglichkeiten, einen besoffenen Matrosen wieder zu ernüchtern. Und was wäre ein Pirat ohne seine Augenbinde und die Flasche Rum unterm Arm?

Das Buch "Der Rausch der Meere" ist ein Streifzug durch die gemeinsame Geschichte von Meer und Alkohol. In zahllosen kuriosen Geschichten und Anekdoten, Analysen und Interviews erkundet der promovierte Germanist und Historiker Rolf-Bernhard Essig, was es mit dem Mythos vom Suff auf See tatsächlich auf sich hat.

Man begegnet Sagen und Abenteuergeschichten aus Kindertagen – Sindbad dem Seefahrer, der kleinen Seejungfrau, Robinson Crusoe. "Seeliteraten" wie Jack London treten auf, der bekanntlich eine leidenschaftliche Beziehung zum Alkohol pflegte, historische Gestalten wie Admiral Nelson, der nach seinem Tode in der Schlacht bei Trafalgar die letzte Heimfahrt in Rum eingelegt antrat, damit die Leiche nicht verweste. Die Matrosen an Bord sollen ab und zu den Deckel des Fasses gelüpft und ein Schlückchen von dem Rum getrunken haben, in dem der tote Admiral schwappte. Bei der Ankunft in London soll sich zwar noch der verstorbene Nelson, aber kein Alkohol mehr im Fass befunden haben. Das Cocktailrezept "Nelson’s Blood", mit viel Rum und Ingwer-Bier oder Limettensaft angerührt, verdankt seinen Namen der skurrilen Legende.

Auch Seitenpfade erkundet der Autor hier und da – den Tiefenrausch von Apnoe-Tauchern, die ohne Atemgerät in große Tiefen vorstoßen, die Durst-Delirien, wenn die Wasservorräte sich bei langen Seefahrten dem Ende entgegenneigen, der rauschhaften Begeisterung für das Meer an und für sich. Verwoben in all die abenteuerlichen, abstrusen, verblüffenden und tragischen Geschichten sind Zitate, statistische Daten, Analysen des Autors und Abbildungen. Selbst Cocktail-Rezepte finden sich.

Autor Rolf-Bernhard Essig bleibt bei einer sehr persönlichen Sicht auf das Thema.
Er habe keine kulturwissenschaftliche Abhandlung schreiben wollen, betont Essig ausdrücklich - möglicherweise um seine spürbare Freude an dem Thema nicht dem Druck auszusetzen, wissenschaftlich exakt und geradlinig sein zu müssen. Dennoch untertreibt der Autor da ein wenig; denn was er zusammengetragen hat an Interviews, Informationen, Kulturgeschichte, Literatur und Zitaten rund um Meer, Rausch und Alkohol, das ist wirklich umfassend und nicht nur kurzweilig zu lesen, sondern auch gründlich recherchiert und informativ.

Essig möchte den Mythos vom trinkenden Seefahrer relativieren. Denn getrunken wurde und wird auch an Land - alle Berufsgruppen, die körperlich schwer arbeiten, kennen Feierabendrituale, in denen der Alkohol eine nicht geringe Rolle spielt. An Land, sagt Essig, gibt es sogar viel mehr Gelegenheit zu trinken, denn die Matrosen waren auf ihren Schiffen während monatelanger Reisen schließlich auf die Alkoholrationen angewiesen, die der Kapitän ihnen zukommen ließ. Seeleute übertreiben das Trinken, weil die Sehnsucht nach einer Erlösung vom harten Alltag auf See so groß ist. Die einsamen, vielfach ausgebeuteten Matrosen spinnen Geschichten von großen Sauf-Gelagen, um der nüchternen Realität zu entkommen.

Sehr anschaulich beschreibt Essig auch, in welch eine widerliche Jauche sich die überlebensnotwendigen Wasservorräte nach einigen Wochen oder Monaten auf See verwandelten. Das faulige Wasser mit Wein, Bier oder Schnaps zu mischen, war lange Zeit der einzige Weg, es auch nur annähernd genießbar zu machen.

Aber natürlich wird auf dem Meer auch um des Saufens willen gesoffen, und das nicht nur in früheren Jahrhunderten: Die tägliche Ration Rum war bei der britischen Navy lange Zeit üblich, Saufrituale und "Tauf"-Rituale beim Überschreiten des Äquators sind es mitunter noch heute. Welches Kreuzfahrtschiff könnte auf seine Cocktailbar verzichten? Interessanterweise gibt es bis heute keine international gültige Promillegrenze für Kapitäne. Wer betrunken erwischt wird, begeht im Höchstfall eine Ordnungswidrigkeit; sein Kapitänspatent ist nur dann in Gefahr, wenn er einen Unfall verursacht.

Das kommt immer wieder vor, wie Rolf-Bernhard Essig erzählt: 2,1 Promille hatte der Kapitän im Blut, als das Schiff "ENA II" im Jahre 2004 im Hamburger Hafen einen Container-Frachter rammte. Ein Nicht-Alkoholiker ist bei dieser Menge Alkohol im Blut so gut wie handlungsunfähig. Das Schiff schlug Leck und lag schließlich kieloben im Hamburger Hafen. Von den 960 Tonnen Schwefelsäure an Bord flossen mehr als Hälfte aus.

"Der Rausch der Meere" ist facettenreich und spannend erzählt - ein Buch zum Schmökern und Sichtreibenlassen, ganz das Richtige, um die Gelage am Ende des Jahres literarisch zu begleiten.


Rolf-Bernhard Essig:
"Der Rausch der Meere.
Über die See, den Alkohol und noch mehr."

Oesch Verlag, Zürich 2005
224 Seiten, gebunden mit Leseband.