Seehofer und der Flüchtlingsstreit

Das Vermächtnis des Gekränkten

Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU)
Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) © imago stock&people
Von Tobias Krone · 30.06.2018
Im Streit mit Kanzlerin Merkel will Horst Seehofer gewinnen - und zwar um jeden Preis. Dabei sind seine Drohkulissen nicht nur eine Gefahr für Europa, sondern auch für die deutsche Parteienlandschaft, meint unser Bayern-Korrespondent Tobias Krone.
"Seid Ihr denn alle verrückt geworden?" – Den Satz hat vor zwei Wochen Hans Maier geschrieben – in einer Mail an seine Partei, die CSU. Der heute 87 Jahre alte Politikwissenschaftler gilt als eiserner Merkel-Fan und als liberaler Christ – in den CSU-Vorstand käme man mit diesen Eigenschaften heutzutage wohl nicht mehr. Anders als früher. Maier war einmal 16 Jahre lang Kultusminister Bayerns.
Möglicherweise zeigt sich in diesen Tagen am Beispiel Hans Maiers, was es heißt, zum alten Eisen zu gehören. Eine Stimme, die sich ihre Vernunft leisten kann – und überdröhnt wird vom kurzsichtigen Zeitgeist, ignoriert von einer Partei, die sich gerade in einem gefährlichen Experiment zu erneuern versucht. Parteichef Horst Seehofer fehlt diese Weisheit. Der Bundesinnenminister missinterpretiert damit seine Rolle. Sein Spiel ist nicht nur für Europa, sondern vor allem für die deutsche Parteienlandschaft brandgefährlich.

Der Bundesinnenminister missinterpretiert seine Rolle

Dabei ist Seehofer mit seinen 68 Jahren ebenfalls ein Senior. Mit seinem bisher unveröffentlichten Migrations-Masterplan hält er nun schon drei Wochen lang die deutsche Politik in Atem. Warum er das tut – dafür gibt es eine kurze Erklärung und eine lange. Die kurze Erklärung: Es ist Wahlkampf in Bayern. Da Seehofers CSU in Wählerumfragen gerade noch weit von der absoluten Mehrheit entfernt ist, spielt er mit AfD-Ideen – und zwar solange, bis selbst die 13 Prozent potenzieller AfD-Wähler in Bayern endlich glauben, dass zwischen ihm und der ihnen verhassten Kanzlerin Angela Merkel kein Funken Freundschaft mehr ist.
Die längere Antwort, warum Seehofer tut, was er tut, hat vor allem einen Ausgangspunkt: sein Stand in der Partei. In den führenden Kreisen der CSU lässt man in diesen Tagen immer wieder durchblicken, wie egal ihnen der persönliche Erfolg Horst Seehofers noch ist. Zwar besetzt der Innenminister formal zwei hohe Posten, aber in Wirklichkeit sind es nur noch Gnadenämter, in denen er solange geduldet ist – wie die Kanzlerin noch Kanzlerin. Solange Angela Merkel im Amt ist – und damit gezwungenermaßen die Partnerin der CSU – möchte sich niemand leichtfertig Seehofers Schuh anziehen. Seehofers Image und damit auch sein politisches Schicksal ist und bleibt eng mit dem Angela Merkels verschränkt. Eine wirkliche personelle Erneuerung der CSU kann es nur ohne diese Kanzlerin geben – und damit auch ohne Seehofer, so das Kalkül.

Seehofer will ein letztes Mal gewinnen

Das kränkt den alten Herrn – und nährt seine Zähigkeit in einem Streit, bei dem es keinesfalls um die Sache geht, sondern um die Deutungshoheit. Und zumindest die will er ein letztes Mal gewinnen. Wie er das einfädelte, konnte Deutschland bereits in seinem Satz vernehmen, er habe die Europäische Union "wachgeküsst". Wach wird gerade so einiges in ganz Europa, aber das hat wenig mit Liebe zu tun, als vielmehr mit der Einigung auf das Abschotten. Der Kompromiss in der Asylpolitik lässt unzählige Fragen offen – und kann deshalb nicht bewertet werden. Aber zwei Akteure können sich definitiv schon einmal zu Siegern erklären. Einerseits die Rechtsradikalen in der italienischen Regierung, denn durch Seehofers eskalative Schützenhilfe wurde ein Kompromiss erzielt, der insbesondere ihnen Recht gibt. Und andererseits Seehofer selbst. Denn sein Konzept der Anker-Zentren, die alle Bundesländer außer Bayern und Sachsen bisher abgelehnt haben, wird mit den geplanten EU-Verteilungslagern für Bootsgeflüchtete immer salonfähiger.
Und auch die rechte Ader der CDU hat Seehofer wachgeküsst. Das ließ sich am Beispiel des Rettungsbootes Lifeline vor Malta studieren. Deutschland nahm keine geflüchteten Passagiere auf. Generalsekretärin Annegret Kramp-Karrenbauer begründete das damit, dass Deutschland "keinen Nachholbedarf an humanitärer Hilfsbereitschaft" habe. So zynisch dieser Satz in dieser Situation wirkte, so eindeutig signalisiert er die Abkehr von Merkels humaner Flüchtlingspolitik. Horst Seehofer dürfte ihn sich ins Tagebuch schreiben.

Anstandsgrenzen zu den Rechtspopulisten wurden eingerissen

In Bayern tourt gerade Ministerpräsident Markus Söder mit Begriffen der AfD durch Pressekonferenzen und Bierzelte. Söder hat die letzten konservativen Anstandsgrenzen zu den Rechtspopulisten eingerissen – um sich brachial die absolute Mehrheit zurückzuerobern. Eine Schlammschlacht, die Ex-Parteichef Theo Waigel inzwischen offen mit der späten Weimarer Republik vergleicht. Der einstige Führer der CSU-Landtagsfraktion Alois Glück wirft Söder indirekt vor, sich an Demagogen wie Donald Trump zu orientieren. Es fehlt der Partei also nicht an Gewissen. Aber Seehofer fehlt das Gewissen. Weil er nur noch gegen Merkel gewinnen will.
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