Sechs Jahre in Spanien

König, Katalonien, Krise

23:03 Minuten
Hundertausende Menschen demonstrieren in Barcelona für Kataloniens Unabhängogkeit.
"Independencia": Kein Thema beschäftigte Marc Dugge mehr, als die Rufe der Katalanen nach Unabhängigkeit. © AFP/ Catalan National Assembly / Roser Vilallonga
Von Marc Dugge · 07.01.2021
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Von Arbeitslosigkeit, Machtwechsel und Separatismus berichtete Marc Dugge aus Madrid für das deutsche Publikum. Und dann kam noch Corona. Jetzt ist der Korrespondent wieder in Deutschland und zieht Bilanz einer aufregenden Zeit.
Die Stimme des Taxifahrers zittert, als wir die Calle Velázquez hochfahren. Es ist der 11. März, kurz nach Mitternacht. In drei Tagen wird der spanische Alarmzustand beginnen, mit einem Lockdown, der so hart wird, dass er seinen Namen verdient.

Ein Frühling durch die Fensterscheibe

"Jetzt haben wir gerade die Finanzkrise einigermaßen überstanden", sagt er mir, "und nun das." Er wird Recht behalten: In den kommenden Wochen wird er kaum Geld verdienen. Der Frühling ist in Madrid die schönste Jahreszeit. Es hätte mein sechster und letzter in der Stadt werden sollen. Ich hatte mich so auf ihn gefreut. Wie die meisten werden ich ihn vor allem durch die Fensterscheibe erleben.
Porträtfoto eines Mannes mit hoher Stirn, glatten braunen Haaren und blauen Augen im Jacket.
War überrascht von der Duldsamkeit der Spanier in der Corona-Krise - Marc Dugge, Ex-Studioleiter des ARD-Büros in Madrid.© www.chrischristes.de
Tatsächlich ist die letzte Krise erst wenige Jahre her. Sie begann spätestens 2009: Nach der internationalen Finanzkrise und einer geplatzten Immobilienblase waren spanische Banken in Schieflage geraten. Nach vielen fetten Jahren hatte Spanien auf einmal ein riesiges Schuldenproblem. Viele Menschen verloren ihre Jobs.

Madrid sprüht vor Leben - trotz der Krise

Als ich im Frühjahr 2014 erstmals ins Studio Madrid komme, sind etwa 4,7 Millionen Menschen arbeitslos gemeldet. Immerhin 300.000 weniger als ein Jahr zuvor, aber immer noch mehr als doppelt so viele wie vor der Krise.
Spanien im Krisenmodus: Auf dieses Thema hatte ich mich eingestellt. Doch in der Stadt merke ich von diesem Krisenmodus wenig. Madrid sprüht vor Leben. Die Restaurants und Bars sind voll, die Geschäfte ebenso. Es stimmte wohl, was mir ein Freund gesagt hatte, beim Ausgehen sparen die Spanier zuletzt. In Spanien gelte: Auch wenn die alte Dame im zweiten Stock einen leeren Kühlschrank hat – den Pelzmantel verkauft sie zuletzt.
Ein Bettler mit einem blauen Käppi sitzt auf dem Boden in einer Fußgängerzone und streckt die rechte Hand aus.
Spanien ist 2014 im Krisenmodus: Immer mehr Menschen leben in dieser Zeit unterhalb der Armutsgrenze.© Julian Stratenschulte / dpa
Aber was weiß ich schon? Ich bin neu hier, mein Spanisch ist noch mittelprächtig und ich kenne nur wenige Leute. Und: Wer erzählt schon gern offen und ehrlich beim ersten Treffen, wie schlecht er dran ist? Das ändert sich, als ich Bekanntschaften geschlossen habe. Als ich abends mit Pablo, damals 31 Jahre, und seinen Freunden in einem Straßencafé zusammensitze, höre ich aber auch viel Frust.

Schlechte Bedingungen für junge Leute

Alle haben sie studiert, alles haben sie "contratos de basura", "Müllverträge", mit wenigen Sicherheiten. Mehr als 1000 Euro pro Monat verdient keiner von ihnen. Auch Elisa nicht, die in einem Gesundheitszentrum an der Rezeption arbeitet:
"Die jungen Leute hier glauben immer weniger daran, dass sich die Lage verbessert. Sie arbeiten irgendwas, um Geld zu verdienen oder studieren, um irgendwas zu tun, sich fortzubilden. Es gibt kaum Arbeit und die Gehälter sind niedrig. Zuversicht? Fehlanzeige!"
Verbittert wirken die Freunde aber nicht. Eher resigniert. Und durchaus verärgert über die Politiker, die nicht in der Lage sind, den jungen Menschen Perspektiven zu geben.

Hotel Mama als Alternative

Fast alle, die hier am Tisch sitzen, wohnen noch zu Hause. Die Krise in Spanien lässt die Familien zusammenrücken: Großeltern helfen mit ihrer Pension den Kindern und Enkelkindern. Und wenn für die Miete nicht mehr reicht, wird eben das Kinderzimmer wieder bezogen. Da sind viele Spanier pragmatisch – und leidensfähig.
Bei meinem Start in Spanien bin ich gespannt, wie die Menschen hier auf mich als Deutschen reagieren. Wir haben im krisengeschüttelten Europa damals als Sparmeister nicht den besten Ruf, vor allem nicht in Griechenland. In Spanien bekomme ich davon nichts zu spüren.
Die Spanier suchen die Schuld für die Misere in erster Linie bei sich selbst: bei ihren Politikern und Machteliten. Das gilt allerdings nicht für alle. In Spanien ist mit der Finanzkrise eine neue Partei entstanden, links, relativ jung und sehr kritisch – auch Deutschland gegenüber.
Ein junger Mann mit kurzem Bart, dunklem Zopf und kariertem Hemd steht lächelnd vor dem "Podemos"-Logo.
Der Hoffungsträger der Linken - Pablo Iglesias, Parteivorsitzender der spanischen Partei Podemos.© dpa/Emilio Naranjo
"In diesem Moment leben wir in einem Europa, das von Deutschland dominiert wird. Genau das wollte das europäische Projekt eigentlich vermeiden: Einige haben dafür viele Jahre zuvor mit ihrem Leben bezahlt, um das zu vermeiden! Ich will in keinem Europa leben, das von Deutschland dominiert wird – genauso wie wenig wie die Mehrheit der Europäer!"
Pablo Iglesias im Juli 2014. Er führt die neue Linkspartei Podemos an. Sie geht aus der Protestbewegung hervor, die sich als Reaktion auf die Finanzkrise in Spanien gebildet hatte. Ihr Ziel: Die herrschenden Verhältnisse in Spanien zu ändern. Ihr Motto: Si se puede! Ja, man kann!

Podemos mischt den Laden auf

Als ich im Januar 2015 nach Madrid ziehe, beginne ich meinen Job in einer politisch spannenden Zeit. Zwei Parteien hatten in Spanien in den vergangenen 40 Jahren den Ton angegeben: die konservative "Partido Popular" und die Sozialisten. Beide hatten sich immer wieder an der Macht abgewechselt, meist mit stabilen Mehrheiten. Beide Parteien hatten ihre Korruptionsskandale.
Jetzt mischt Podemos den Laden auf. Die Partei will vieles anders machen – etwa für mehr Bescheidenheit und Transparenz und gegen Vetternwirtschaft eintreten.
Mit ihren Gesprächskreisen, Führungsduos und leidenschaftlichen Debatten erinnert mich Podemos damals an die frühen Grünen. Es scheint so, als würde Spanien sein 1968 durchleben – und sich mit sich selbst auseinandersetzen, auch wenn es schmerzt.

Die Zeit der klaren Mehrheiten ist vorbei

Auch ich finde es am Anfang gut, dass die Parteienlandschaft vielfältiger und bunter wird. Was das aber für Schwierigkeiten mit sich bringt, merke ich erst später. Die klaren Mehrheiten von früher sind passé. Es wird vier Jahre, drei Neuwahlen und ein Misstrauensvotum brauchen, bis Spanien eine einigermaßen stabile Regierungsmehrheit bekommt.
Als Korrespondent komme ich aus der Vor- und Nachberichterstattung zu den Wahlen gar nicht mehr heraus:
"Spaniens geschäftsführender Ministerpräsident Mariano Rajoy ist bei seiner Wiederwahl gescheitert."
"Der spanische konservative Ministerpräsident Mariano Rajoy könnte heute über ein Misstrauensvotum stürzen."
"In Spanien ist der Sozialist Pedro Sanchez zum Ministerpräsidenten gewählt worden."
Unter der Führung der größten Organisationen und Gewerkschaften marschieren zahlreiche Menschen beim Generalstreik am 21.02.2019 in Katalonien auf den Straßen Passeig de Gracia und Diagonal.
Die Unabhängigkeitsbewegung in Katalonien kann die Massen mobilisieren, so wie beim Generalstreik im Februar 2019.© picture alliance / dpa / Nicolas Carvalho Ochoa
Aber kein Thema wird mich während meiner Korrespondentenzeit in Spanien so sehr beschäftigen wie dieses: "Independencia, Unabhängigkeit" rufen die Menschen auf einer Demonstration im Herbst 2017 in Barcelona. Ich schaue in erzürnte Gesichter von Familienvätern, Großmüttern und Studenten. Es sind sehr unterschiedliche Menschen, die hier stehen – vereint in der Wut.

Der Kampf um die Unabhängigkeit Kataloniens

Als ich nach Spanien kam, war mir der Regional-Nationalismus des Baskenlandes mit seinen zeitweisen terroristischen Auswüchsen bekannt. Zum Thema Katalonien hatte ich noch keine rechte Meinung. Wie wahrscheinlich die meisten Deutschen, als sie am 1. Oktober 2017 die Fernsehbilder aus Barcelona sehen.
Die Regionalregierung hatte ein Referendum über die Unabhängigkeit Kataloniens organisiert, an dem sich viele Menschen beteiligen. Die spanische Polizei versuchte, eben das zu verhindern, meist mit legitimen Einsätzen. Aber einige Polizisten knüppeln auf friedliche Wähler ein. Der Einsatz läuft sichtlich aus dem Ruder, vor den Fernsehkameras. Das fügt dem Image von Spanien schweren Schaden zu.
Das ändert aber nichts daran, dass dieses Referendum illegal, weil verfassungswidrig ist. Die katalanischen Separatisten unter Carles Puigdemont scherten sich nicht groß darum. Sie hatten die Abstimmung gegen alle Widerstände durchgesetzt – nach dem Motto: Der Wille des Volkes steht über den Gesetzen. Es ist das Leitmotiv der Populisten.
"Mit dem Ergebnis des Referendums vom 1. Oktober hat Katalonien das Recht bekommen, ein unabhängiger Staat zu sein. Dieses Recht muss gehört und respektiert werden."
Ein lächelnder Mann mit Bubikopf und Brille in Jacket und Krawatte.
Umstrittene Symbolfigur: Carles Puigdemont kämpft gegen die Zentralregierung in Madrid.© picture alliance / dpa / Lehtikuva / Markku Ulander
"Mit dem Ergebnis des Referendums vom 1. Oktober hat Katalonien das Recht bekommen, ein unabhängiger Staat zu sein. Dieses Recht muss gehört und respektiert werden."
Meine Kollegen und ich verfolgen perplex, was hier geschieht. Regionalpräsident Carles Puigdemont geht immer weiter auf Konfrontationskurs zu der Regierung in Madrid. Er versucht, ihr Zugeständnisse abzuringen. Die stellt sich taub.

Gespaltenes Katalonien: Für oder gegen die Unabhängigkeit?

Katalonien ist gespalten: Die eine Hälfte ist für eine Unabhängigkeit von Spanien, die andere dagegen. Es ist ein wenig wie in Großbritannien mit dem Brexit oder in den USA unter Trump: Der Riss geht oft mitten durch Familie. Auch bei Kike, dem Verwandten einer Freundin, den ich in einem Café in Barcelona treffe.
"Ich habe Schwager, die niemals Separatisten waren, die noch nicht mal katalanisch sprechen", erzählt sie. "Jetzt sind sie es auf einmal. Sie erzählen immer, dass Spanien uns ausnimmt und dass wir allein besser dran wären. Wir haben uns zwar nicht geprügelt aber doch beschlossen, das Thema nicht mehr anzusprechen."
Als ich wieder zurück nach Madrid komme, sehe ich, dass der Katalonien-Konflikt auch hier Folgen hat. Auf einmal hängen spanische Fahnen an den Balkons – als Zeichen der Einheit und des Protests.
Immer wieder hatte ich in den Jahren zuvor berichtet, dass in Spanien rechtsextremes Gedankengut kaum Gehör findet. Ich hatte das damit erklärt, dass die konservative Volkspartei in ihrer Ausrichtung ohnehin schon weit rechts anzusiedeln sei. Außerdem sei die Zeit des Faschismus unter Franco gerade mal 40 Jahre her.
Eine Wahlveranstaltung der rechtsextremen Partei Vox im Oktober 2018 in Madrid
So voll, dass viele draußen bleiben mussten: eine Wahlveranstaltung der Partei Vox im Oktober 2018 in Madrid.© picture alliance/AP Photo/Manu Fernandez
Tatsächlich bekommt die ultrarechte Partei Vox bei den Wahlen im Dezember 2015 gerade mal 0,2 Prozent der Stimmen – und verfehlt einen Einzug ins Parlament. Mit Katalonien ändert sich das. Jetzt fühlen sich viele berufen, im wahrsten Sinne des Wortes Flagge zu zeigen.

"Es geht nur um Spanien, unser Vaterland"

1. Oktober 2018 an der Plaza Colón in Madrid. Junge Männer und Frauen ziehen auf den Platz, die Spanienfahne über die Schulter oder an den Gürtel gehängt. Ihr Dresscode verrät, dass es Töchter und Söhne aus den reicheren Vierteln sind. Sie feiern nicht die spanische Fußballnationalmannschaft, sondern Spanien selbst.
Ein älterer Mann steht am Rand des Spektakels und schüttelt langsam den Kopf, wie als wenn er nicht glauben kann, was er sieht und hört. Es sind tatsächlich neue Töne, die Vox-Frontmann Santiago Abascal hier anschlägt:
"Es geht heute nicht um Parteien, es geht nur um Spanien, unser Vaterland. Wir wollen unsere Souveränität zurückerlangen und unsere Urnen, die uns von jenen entrissen worden sind, die die Macht ergriffen haben – unterstützt von den Feinden Spaniens!"
Zu den Feinden Spaniens zählt Vox vor allem die katalanischen Separatisten, aber auch baskische Nationalisten oder die Linkspartei Podemos, die das skandalumwitterte Königshaus wohl lieber heute als morgen abschaffen würde. In wenigen Tagen wird der frühere Diktator Francisco Franco aus seiner monumentalen Grabanlage geholt und medienwirksam umgebettet werden. Die spanische Linke wollte es so. Abascal weiß, dass Vox anziehend wirkt für all jene, die sich im heutigen Spanien nicht wiederfinden, denen die alten Bezugspunkte fehlen.
Seine Rechnung geht auf: Bei den Wahlen im April 2019 bekommt Vox ganze zehn Prozent der Stimmen und kann mit 24 Abgeordneten ins Parlament einziehen.

Die Coronakrise polarisiert Spanien

In der Coronakrise erlebe ich ein Spanien, das so polarisiert ist, wie lange nicht mehr. Die Sozialisten sind der Überzeugung, die Coronakrise gut zu meistern. Regierungschef Pedro Sánchez gefällt sich in wöchentlichen emotionalen und länglichen Fernsehansprachen.
Die Opposition wirft ihm dagegen Versagen vor, die Rechtsextremisten von Vox machen Sánchez sogar persönlich für die vielen Toten verantwortlich. Sie rufen zu Protestkundgebungen auf. Außerdem stellen sie einen Misstrauensantrag gegen Sánchez, scheitern aber damit.
Klinikmitarbeiter in Kitteln und mit Mundschutz stehen vor dem Krankenhaus auf der Straße und applaudieren.
Als man den Pflegekräften noch applaudierte - eine spanische Klinik in Coronazeiten.© Imago / Jordi Boixareux
Und trotzdem: Ich erlebe in der Coronakrise vor allem wieder das langmütige, leidensfähige Spanien wie zu Beginn meiner Zeit. Das bunte, laute Madrid wird über sieben lange Wochen hinweg ganz still, viel zu still.
Wenn meine deutschen Freunde über den harten Lockdown jammern, dann denke ich an das, was die Spanier durchgemacht haben. Als man nur in Ausnahmefällen überhaupt auf die Straße durfte. Und gezwungen war, von Balkon zu Balkon mit den Nachbarn Trivial Pursuit zu spielen, um sich die Zeit zu vertreiben:
"Wer war der erste spanische Olympiasieger", fragt einer. "Nicht die leiseste Ahnung."

Der Pelzmantel wird erst ganz zum Schluss verkauft

Sechs Jahre nach meiner Ankunft ist aus manch einem Aufregerthema die Luft raus. Katalonien ist weiterhin Teil von Spanien und wird es wohl auch bleiben. Podemos hat dann doch nicht so viel anders gemacht: Die Partei gehört nun auch zum Establishment und hat ebenfalls mit Korruptionsvorwürfen zu kämpfen.
Spanien hat weiterhin einen König und um den umgebetteten Franco ist es wieder ganz still geworden. Neu ist, dass die Rechtsextremen im Parlament sitzen – aber eben auch nur mit begrenzten Möglichkeiten.
Auch in Spanien wird nun geimpft. Auch hier gibt es das viel zitierte Licht am Ende des Tunnels. Aber diese Krise wird die Spanier noch härter treffen als die letzte. Viele Geschäfte und Unternehmen werden geschlossen bleiben oder schließen müssen, weil ihre Reserven aufgebraucht sind. Trotz Kurzarbeitergeld, Konjunkturprogrammen und EU-Hilfen.
Zuversichtlich stimmt mich, dass die Spanier krisengestählt sind. "Spanien ist immer ein armes Land gewesen", hat mir mal ein Unternehmer gesagt. "Wir sind harte Zeiten gewohnt." Wahrscheinlich werden auch wir Journalisten zweimal hinschauen müssen, um das ganze Ausmaß der kommenden Krise zu erkennen. Denn es gilt weiterhin: Der Pelzmantel wird erst ganz zum Schluss verkauft.
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