Sebastian Haffner zum Hundersten

Von Peter Bender · 27.12.2007
Einen Publizisten wie Sebastian Haffner hat es in der Nachkriegszeit nicht wieder gegeben, und künftig wird es ihn schon gar nicht geben. Der Mann war einmalig, weil er über Eigenschaften verfügte, die in dieser Stärke und Häufung sonst nicht vorkommen.
Er war ein Charakter, was sich schon früh bewies, als er 1938 Nazi-Deutschland verließ, ohne es zu müssen. Er hätte auch bleiben und als Jurist Karriere machen können; aber er ging, um "seine eigene Persönlichkeit, sein eigenes Leben und seine private Ehre" zu bewahren. Auch später ging er, wenn ihm etwas nicht mehr gemäß war. Er ging, auch wenn er nicht wusste, wo er ankommen werde.

Er war unabhängig, schrieb für rechte und linke Blätter, verärgerte alle Parteien ziemlich gleichmäßig und bekannte sich fast programmatisch als Wechselwähler. Er war hochintelligent und hoch gebildet, hatte ein unbändiges journalistisches Temperament und, nicht zuletzt: er konnte schreiben. Er schrieb klar und einfach, wusste seine Akzente und Effekte zu setzen. Er dramatisierte, polemisierte, provozierte, er übertrieb, spitzte zu, traf sein Ziel meistens, schoss nicht selten darüber hinaus.

Die Verbindung all dieser Fähigkeiten machte ihn interessant, allmählich bekannt und schließlich berühmt. Dabei fällt auf, dass er seine Erfolge großenteils auf eine Art und W eise errang, die heute verloren geht. Er begnügte sich nie mit einem verkniffenem Sowohl-als-auch, er hatte eine Meinung und sagte sie. Er schrieb und urteilte nicht in der schrecklichen Distanzlosigkeit, die viele Autoren heute nur das jeweils aktuelle Ereignis des Tages sehen lassen. Haffner trat erst einmal drei Schritte zurück, bevor er zur Feder griff, er sah, was heute geschah, im Zusammenhang mit gestern und vorgestern, sein Kommentar hatte eine Dimension mehr und ermöglichte zu begreifen, was vorging.

Haffner betrachtete Journalismus nicht nur als einen Kellnerberuf, der den Zweck hat, die Speisen, die andere kochen, schön zu servieren. Haffner war es meist nicht genug zu berichten, abzubilden, zu erläutern. Er wollte auch etwas – eine Politik vorschlagen oder empfehlen oder verhindern. Er wollte verbreiten, was er dachte, er arbeitete auch nur für Redaktionen, die seinen Ansichten zugeneigt waren.

Am meisten bekannt wurde er durch Funk und Fernsehen, aber nicht, wie man heute bekannt wird als gehobener Ansager anderer Beiträge oder als Fragensteller in einer Talkrunde. Haffner hörten und sahen die Leute fasziniert zu, weil er etwas zu sagen hatte und wusste, wie man es sagt.

Im Laufe der siebziger Jahre wurde aus dem Publizisten Haffner allmählich ein Historiker. Was blieb, war der blendende Stil und die politische Phantasie, die Übertreibungen und allzu gewagten Thesen verschwanden. Die historischen Schriften waren Haffners Alterswerk, gereift in einem langen Leben. 1978, da war er gerade siebzig, erschien das Wichtigste, was er je geschrieben hat: Ein schmaler Band von knapp 200 Seiten mit dem bescheidenen Titel "Anmerkungen zu Hitler". Es wurde ein Welterfolg, übersetzt in viele, auch ganz ferne Sprachen. Noch heute, 30 Jahre später, halten größere Buchläden die "Anmerkungen" bereit, mittlerweile in 26. Auflage.

Haffner hat sein Leben lang über Hitler nachgedacht, darin lag das Geheimnis seines Erfolges. Er erfasste das Phänomen Hitler, indem er ihn wie andere geschichtliche Personen betrachtete und beurteilte, seine Leistungen und Erfolge wie die Fehler und Irrtümer darstellte. Vor diesem Hintergrund des Üblichen in der Politik wurde erst richtig erkennbar, was politisch nicht erklärbar ist, Hitlers unvorstellbare Verbrechen.

Sebastian Haffner wäre heute hundert Jahre alt geworden. Seine Publizistik wird bald vergessen sein, obwohl sie in vielem, nicht allem, ein Vorbild geben könnte. Bleiben werden hingegen Haffners geschichtliche Werke, allen voran das Hitler-Buch und eine glänzende Churchill-Biografie. Mit soviel Genie, historischer Einfühlung und literarischem Talent, ist über Geschichte des vergangenen Jahrhunderts sonst nicht geschrieben worden.


Peter Bender, promovierter Althistoriker, ist seit 1954 Journalist und beschäftigt sich seitdem besonders intensiv mit dem Ost-West-Verhältnis in Deutschland und Europa. 1968/69 arbeitete er ein Jahr im "Internationalen Institut für strategische Studien" in London, von 1973 bis 1975 war er ARD-Hörfunk-Korrespondent in Warschau. Peter Bender ist Autor zahlreicher Bücher, u. a. "Unsere Erbschaft. Was war die DDR - was bleibt von ihr?", "Die Neue Ostpolitik und ihre Folgen. Vom Mauerbau bis zur Vereinigung" und "Episode oder Epoche? Zur Geschichte des geteilten Deutschland".