Science Fiction

Philosoph im Gewand des Geschichtenerzählers

Ein Arzt bei einem Eingriff am Gesicht
Per Operation gegen "Lookismus" vorgehen - dies ist eine von Ted Chiangs Geschichtsideen © picture-alliance / dpa
Von Marten Hahn · 20.02.2014
Wie wirken intelligenzsteigernde Medikamente auf den Geist des Menschen? Das ist eine der Fragen, über die der Amerikaner Ted Chiang in seinen Science-Fiction-Erzählungen philosophiert: SF-Literatur für Fortgeschrittene.
Nach einem Unfall ist Leons Gehirn irreparabel geschädigt. Ein normales Leben, sein Job als Hologramm-Grafiker - all das scheint Vergangenheit. Doch die Mediziner erproben an Leon die Wirkung einer neuen Hormontherapie. Bereits nach der ersten Injektion wird klar: Hier geht es nicht nur um sein Erinnerungsvermögen. Leon hat die Grenzen der üblichen menschlichen Intelligenz hinter sich gelassen. Als die Dosis erhöht wird, entgleitet der Patient der Kontrolle der Mediziner, des Staates und beinahe sich selbst. Es beginnt ein Erkenntnis-Trip an der Grenze zum Wahnsinn.
"Verstehen" ist eine von acht Kurzgeschichten des SF-Autors Ted Chiang, die der kleine Golkonda Verlag in dem Bändchen "Das wahre Wesen der Dinge" versammelt hat. Manche sind bloße Gedankenspiele. Andere, wie "Verstehen", entwerfen ganze Lebens- und Ideenwelten. Chiang begnügt sich nicht mit glitzernden Oberflächen, leuchten Knöpfen und bunten Cyberwelten. Der studierte Informatiker ergründet vielmehr die Auswirkungen bestimmter Erfindungen auf Geist und Körper des Menschen. Mal kommt das als Steampunk-Spuk daher, mal als Wissenschaftsthriller. Aber immer als SF-Literatur für Fortgeschrittene.
Der Schönheitswahn ist zum Problem geworden
In "Die Wahrheit vor Augen" erzählt Chiang zum Beispiel die Geschichte eines Wettrüstens zwischen Werbeindustrie und Gesellschaft. Lookismus, also: Schönheitswahn ist zum Problem geworden. Um nun die Diskriminierung weniger attraktiver Menschen zu verhindern, nehmen Forscher unter dem Stichwort Calliagnosie Eingriffe ins Gehirn vor. Die künstliche hervorgerufene kognitive Blockierung verhindert, dass Menschen schöne Gesichter von hässlichen unterscheiden können: Alle Menschen wirken gleich attraktiv. Während die einen ihre Kinder der Calliagnosie unterziehen, lehnen andere den Eingriff als Teufelszeug ab oder lassen die Blockade abschalten, sobald ihre Kinder die Volljährigkeit erreicht haben.
Ästhetische Gleichberechtigung? Geschickt spielt Chiang das Pro und Contra des Eingriffs durch, bis der Leser selbst nicht mehr weiß, auf welcher Seite er sich befindet. Nicht nur hier entwickelt Chiang gesellschaftliche Szenarien anhand einzelner Gadgets oder wissenschaftlicher Errungenschaften. Wer jedoch auf eine Art literarischen TÜV hofft, wird enttäuscht. Chiang scheint nicht daran interessiert, zu urteilen - nicht über den Einsatz revolutionärer Hormontherapien, nicht über den Einsatz schönheitsverschleiernder Eingriffe und auch nicht - in einer anderen Geschichte des Bandes - über die Liebe einer Trainerin digitaler Lebewesen gegenüber einem ihrer Schützlinge.
Die Idee im Mittelpunkt
Chiang wildert in verschiedenen Wissenschaften - von Psychologie über Neurologie, bis Zoologie und Genetik - nur um die uns bekannten Naturgesetze außer Kraft zu setzen und eigene wissenschaftliche Welten zu erschaffen. Und er macht das so schlüssig, dass der Leser willig folgt, auch wenn er nicht immer alles versteht - je nach fachlichem Rüstzeug.
Zwischenmenschliche Beziehungen spielen bei Chiang eine untergeordnete Rolle. Sie werden eher funktional gebraucht, um soziale Mechanismen zu erklären. Die Idee steht im Mittelpunkt steht, nicht der Plot. Und so zeigt sich Chiang nach seinem zuvor erschienenen, viel gelobten Band "Die Hölle ist die Abwesenheit Gottes" einmal mehr als Philosoph im Gewand des Geschichtenerzählers.

Ted Chiang: "Das wahre Wesen der Dinge"
Golkonda, Berlin, 2013
281 Seiten, 16,90 Euro

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