Schwieriges Verhältnis des Psychoanalytikers zu seiner Heimat

Von Knut Cordsen |
Am 06. Mai wäre Sigmund Freud 150 Jahre alt geworden. Wie beurteilen zeitgenössische Schriftsteller nun sein Werk? Die österreichische Dramatikerin und Romanautorin Marlene Streeruwitz erklärte, in ihrer "geistfeindlichen" Heimat sei man immer noch weit davon entfernt, Freuds Erkenntnisse ernst zu nehmen.
Marlene Streeruwitz: "Meine Freud-Lektüre war natürlich österreichischerweise sehr spät. Sie wissen, ich komme aus der österreichisch-katholischen Kultur und das bedeutet, dass die Urtexte nicht gelesen werden, es wird auch nur im Katechismus unterrichtet, d. h. Exegese, - also ich habe so mit 18 begonnen, Freud zu lesen und die Psychopathologie des Alltagslebens war das erste, was ich gelesen habe."

Die heute 55-jährige Marlene Streeruwitz, pendelnd zwischen Wien, Berlin und New York, ist - wie so viele Schriftsteller - eine Leserin Sigmund Freuds, bis heute. Hermann Hesse hielt ihn für einen "Bundesgenossen" der Dichter. Dem stimmt Streeruwitz zu und sagt, sie lese Freuds Krankengeschichten über Paranoiker und Hysterikerinnen wie literarische Texte, wie kleine Novellen.

Streeruwitz: "Also ich halte das für besonders wichtig an Freud, dass er die Möglichkeit betont, dass jede Geschichte, die erzählt wird, wichtig ist, weil sie in ihrem Zusammenhang Bedeutung gewinnen kann und dann kann auch jede andere Geschichte Bedeutung bekommen, ich glaube, dass das für eine demokratische Form zu schreiben wichtig ist, und auch für Frauen; die ja nun nicht das Gefühl haben, dass ihre Geschichten gleich wichtig wie die der Männer sind."

Nicht alle Autoren mochten Sigmund Freud: Vladimir Nabokov zum Beispiel lehnte den "Wiener Quacksalber", den "Schamanen" und "Scharlatan", wie er ihn nannte, rundheraus ab - für Marlene Streeruwitz kein Wunder.

"Na, das ist doch typisch Nabokov. Das ist Widerstand, und ich glaube, dass Widerstand für ihn etwas Produktives gewesen ist. Auch für Freud, wenn wir ihn als Autor nehmen, war das wie für jeden anderen Autor: Wenn sich dieser Widerstand einstellt, ist das eine unglaubliche Bestätigung dessen, was man tut. Das würde er ja auch selber im Rahmen einer Analyse sagen, dass, wenn so ein Widerstand auftritt, dann hat er etwas getroffen. Für Freud müsste es eine Bestätigung sein, dass Nabokov sich aufregt."

Wie Nabokov, meint Marlene Streeruwitz, hätte wohl auch Thomas Bernhard, mit dem sie eng befreundet war, Angst gehabt davor, dass jemand wie Freud seine Romane, seine Erregungen, Texte Chiffrierten Wahnsinns allesamt, lesen könnte - mit dem Blick des Psychoanalytikers eben. Immerhin aber hat Bernhard Freud auch attestiert, ein "außergewöhnlich guter Schriftsteller" zu sein, mit der humoresken Einschränkung freilich, Freud sei für ihn "eine der wenigen großen Persönlichkeiten, die einen Bart gehabt haben und trotzdem groß waren". Sich einer Psychoanalyse zu unterziehen, findet Streeruwitz, die selbst nie eine solche gemacht hat, das hätten vor allem Literaturkritiker nötig, um "genügend Abstand zu sich selbst zu gewinnen".

Streeruwitz: "Ja, in einer idealen Welt wäre es doch so, dass Literatur enthaltsam gelesen werden kann, also dass Kritiker und Kritikerinnen nicht von sich aus, von ihrem persönlichen, nicht verarbeiteten Leben auf diese Texte schauen müssen, da habe ich oft das Gefühl, dass etwas angesprochen wird, was auch Widerstand, Zorn, Angst, Wut bis hin zu Hass auslöst, wo ich denke, dass das auch schon ein bisschen kindisch ist, weil es darum überhaupt nicht geht. Und ein Schritt, der zur Enthaltsamkeit führen würde, wäre natürlich, sich über die eigene Situation und warum es einen nun trifft, klar zu werden, und da wäre eine Kleinanalyse oder eine schöne große Analyse ganz gut."

Was Marlene Streeruwitz besonders fasziniert an Freud, das ist, was der Urvater der Psychoanalyse einmal in einem Brief an Arthur Schnitzler die "Doppelgängerangst" genannt hat.

Streeruwitz: "Ich kenne das sehr gut, die Vorstellung dieses Niederschreibens, das bedarf ja einer Überwertigkeit, also es kann sich niemand, weder Mann noch Frau, hinsetzen und nicht eine kleine Überwertigkeit entwickeln, dass die Welt das, was da geschrieben wird, wirklich haben will und dass sie es braucht. Und Freud schreibt auch gegenüber Schnitzler, dass das in den Geschichten niedergelegt wäre, dass er Angst gehabt hätte, jemanden zu treffen, der genauso ist wie er und der es genauso macht, der also im Grunde genommen im Schaffen ihn nachstellt oder verdoppelt. Das kann ich sehr gut verstehen, weil die Angst, dass jemand anderer das gerade jetzt genauso macht und viel besser, sozusagen die andere Seite dieser Überwertigkeit ist, und ich fand das sehr nett."

Leider, so Marlene Streeruwitz, sei man in ihrer "geistfeindlichen" Heimat Österreich immer noch weit davon entfernt, Freuds Erkenntnisse ernst zu nehmen. Nach einer jüngst vom österreichischen Bundeskanzleramt in Auftrag gegebenen Umfrage halten 19 Prozent aller Österreicher Sigmund Freud für einen Schriftsteller, einen Literaten, nicht für einen Psychoanalytiker. Das sei typisch, sagt Streeruwitz.

Streeruwitz: "Die proto-austrofaschistischen Tendenzen, die in dem Land bestehen, das Nicht-Aufgearbeitete, das Verdrängte, das spricht alles dafür, Freud abzulehnen, keine Frage, oder ihn jetzt ganz freundlich auf die Autorschaft zurückzudrängen und die geistigen Errungenschaften abzulehnen - Widerstände!"

Wer noch nie etwas von Sigmund Freud gelesen habe, dem empfiehlt Marlene Streeruwitz zum Einstieg seine Schrift "Der Mann Moses". Weil sie darin die Krönung seines Schaffens erblickt und weil sie glaubt, dass dies ein Buch sei, das jeder "angstlos" lesen könne, ohne Rückschlüsse aufs eigene Innenleben zu ziehen.

Streeruwitz: "Ich glaube, bei Freud ist das Problem, dass alle Leute sich sofort identifizieren und denken, das bezieht sich auf sie, also auch hier eine leserische Überwertigkeit und ein Beziehungswahn, und dass sie deshalb nie zu einem ruhigen Lesen kommen und das wäre doch mit dem ‚Mann Moses’ eine Möglichkeit."