Schwieriger demokratischer Wiederaufbau Libyens

Volker Perthes im Gespräch mit André Hatting · 21.10.2011
Nach dem Tod des Diktators Gaddafi beginnen für den libyschen Übergangsrat die "echten politischen Herausforderungen", findet Politikwissenschaftler Volker Perthes: "Er muss zeigen, dass er tatsächlich für die Einheit des Landes steht, dass er eine Verständigung zwischen den unterschiedlichen Fraktionen und Gruppen und Regionen herstellen kann."
André Hatting: Muammar al-Gaddafi ist tot: Zwei Monate nach seinem Sturz starb der 69-jährige libysche Ex-Diktator bei einem Gefecht mit Kämpfern der neuen Macht. Schwer verletzt wurde er zunächst festgenommen, starb dann aber anschließend, so der Bericht des libyschen Übergangsrates. Also doch kein Exil – Gaddafi hatte sich in seiner Geburtsstadt verschanzt. Darüber möchte ich jetzt mit Prof. Volker Perthes sprechen, er ist Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik. Guten Morgen, Herr Perthes!

Volkes Perthes: Ja, einen schönen guten Morgen!

Hatting: Überrascht es Sie, dass Gaddafi ausgerechnet in Sirte untergetaucht war, also im Auge des Orkans?

Perthes: Das war deshalb ein bisschen überraschend, weil es in den letzten Tagen immer mehr Meldungen gegeben hat, dass er sich irgendwo im Grenzgebiet zwischen Niger und Algerien und Libyen befinden würde. Aber es erklärt natürlich einiges, es erklärt vor allem, warum der Widerstand so heftig war in Sirte, warum so viele Waffen und Kämpfer in Sirte waren, dem Ort, aus dem Gaddafi ursprünglich ja auch stammt.

Hatting: Nun ist auch diese Schlacht geschlagen. Kehrt jetzt Ruhe ein?

Perthes: Ich denke, dass jetzt die letzten Nester des Widerstandes relativ schnell unter die Kontrolle des Übergangsrats gebracht werden, aber das heißt auch, dass die echten politischen Herausforderungen für den Übergangsrat beginnen. Er muss zeigen, dass er tatsächlich für die Einheit des Landes steht, dass er eine Verständigung zwischen den unterschiedlichen Fraktionen und Gruppen und Regionen, aus denen er sich konstituiert, herstellen kann, und dass er einen politischen Prozess auf den Weg bringen kann, indem er letztlich alle Libyer – oder jedenfalls die allergrößte Mehrheit – mitnimmt.

Hatting: Für wie wahrscheinlich halten Sie das, dass er damit Erfolg hat?

Perthes: Ich glaube, es gibt gute Chancen, aber es gibt objektiv ganz viele Schwierigkeiten. Zu den guten Chancen gehört tatsächlich dieser Enthusiasmus im Land, dass man das selbst geschafft hat. Ja, die Nato hat geholfen, aber letztlich hat man selber es geschafft, die Diktatur abzuschütteln, und darauf ist man stolz. Zu den guten Chancen gehört, dass der Übergangsrat sich tatsächlich aus Vertretern ganz vieler Regionen und Kommunen zusammensetzt. Zu den guten Chancen gehört auch, dass man relativ schnell, wenn das Öl wieder fließt, mehr Geld haben wird als andere Staaten im Übergangszustand, wie Tunesien und Ägypten.

Und zu den Schwierigkeiten gehört – das ist sicherlich die größte Schwierigkeit –, dass hier ein Land wiederaufgebaut, politisch wiederaufgebaut werden muss, was praktisch keinerlei funktionierende Institutionen hat. Da muss man Dinge wie Regierungs- und Verwaltungsstrukturen oder auch demokratische, partizipative Strukturen wirklich ganz von unten aufbauen.

Hatting: Erklärt das auch, warum das so lange dauert mit der Regierungsbildung? Es hat der Übergangsrat ja immer wieder angekündigt, jetzt, nach dem Tod Gaddafis, soll es in vier Wochen geschehen.

Perthes: Ja, das hat der Übergangsrat lange angekündigt, konnte sich auch nicht einigen untereinander. Das Prinzip, nach dem der Übergangsrat zusammengesetzt ist, wird sich sicherlich auch in der Regierung widerspiegeln, nämlich Repräsentation aller Regionen und aller Städte, die nach und nach befreit worden sind und jetzt eben alle befreit sein werden. Jeder lokale Verband, jede Kommune, jede Region will einen oder mehrere Vertreter haben, und das ist im Prinzip auch richtig, wenn man zeigen will, dass das ganze Land hier zusammensteht, gleichzeitig ist es schwierig, daraus eine arbeitsfähige Regierung zu machen.

Hatting: Gaddafi ist tot, das bedeutet natürlich auch: kein Verfahren gegen ihn. Ist das ein Vorteil oder ein Nachteil für die neuen Machthaber?

Perthes: Es macht es für die noch neuen Machthaber sehr viel leichter. Man hätte ja nicht genau gewusst, was man tatsächlich mit Gaddafi machen würde. Würde man versuchen, ihn auszuliefern nach Den Haag für einen speziellen Gerichtshof? Würde man versuchen, einen eigenen Gerichtshof einzurichten, wo dann auf der einen Seite die Erwartung, auch die Forderung von großen Teilen der Bevölkerung da gewesen wäre, dass man den Diktator schnell aburteilt, man auf der anderen Seite aber sich selbst und der Internationalen Gemeinschaft zeigen und beweisen will, dass man ein Rechtsstaat ist. Das ist eine ziemlich große Schwierigkeit und ich glaube, die Machthaber, die neuen Machthaber sind froh, dass sie die nicht haben.

Hatting: Sie haben gerade von den Herausforderungen gesprochen, vor denen das Land jetzt steht. Wie verhindert man ein ähnliches Szenario wie im Irak, wo das Land ja nach dem Tod Saddam Husseins eben nicht zur Ruhe gekommen ist?

Perthes: Ja, die Situationen sind schon unterschiedlich. Libyen ist nicht der Irak, es gibt nicht die konfessionellen Spaltungen, die wir gehabt haben im Irak, die tribalen Spaltungen werden ein Stück weit übertrieben – natürlich gibt es Stämme, aber es gibt eben auch eine städtische Gesellschaft. Und was wichtig ist hier: Es gibt sehr unterschiedliche Regionen, es gibt sehr unterschiedliche Städte, die alle beteiligt werden wollen, alle beteiligt werden müssen, aber es gibt nicht diese ganz grundsätzlichen Spaltungen.

Und das Wichtige wird sein, einer der wichtigen Punkte wird sein: Kriegt man die alten Gaddafi-Anhänger in irgendeiner Form integriert? Da hilft im Prinzip das Ölgeld, weil man eben Positionen verteilen kann, weil man Ressourcen verteilen kann. Dies, was hier hilft, ist gleichzeitig allerdings auch die größte Herausforderung: Man wird Ressourcen und Positionen so verteilen müssen, dass alle sagen: Das ist halbwegs fair. Das wird nicht unbedingt über demokratische Entscheidungen gehen, wo dann eine große politische Fraktion oder eine Koalition die Mehrheit hat und alles nimmt, und die anderen haben nichts und bekommen auch nichts, sondern es wird vermutlich durch eine Form von Repräsentation geschehen, wo man sagt, alle wichtigen gesellschaftlichen Gruppen, alle wichtigen Regionen sind vertreten und werden auch an der Regierung und werden auch an den Ressourcen, also an dem, was aus dem Öl zu verteilen ist, beteiligt.

Hatting: Gehören zu dieser Repräsentation auch die Anhänger Gaddafis?

Perthes: Es werden sicherlich nicht die unmittelbaren Mitkämpfer und Anhänger Gaddafis beteiligt sein, aber wir sehen, dass auch in der derzeitigen Zusammensetzung des Übergangsrats natürlich ehemalige Minister von Gaddafi beteiligt sind. Und was wichtig ist, ist, dass die Stämme, die mit Gaddafi zusammengearbeitet haben, dass auch Vertreter aus der Stadt Sirte etwa in irgendeiner Form beteiligt sind an der neuen Machtkonstellation, denn sonst schafft man sich neue Unruhe, neue Widerstandsherde.

Hatting: Der Wiederaufbau des Landes hat längst begonnen, die Industriemächte buhlen natürlich um Aufträge, auch der deutsche Wirtschaftsminister war vor einer Woche in Libyen. Ist der nationale Übergangsrat ein verlässlicher Partner?

Perthes: Er ist der einzige Partner, den man hat, und mit dem sollte man arbeiten, und der schlechteste Rat für ausländische Partner Libyens wäre, zu sagen: Wir warten jetzt erst einmal, bis in Libyen alles institutionell geregelt ist. Ich denke, man muss jetzt zeigen, dass man bereit ist, mit dem Land zusammenzuarbeiten. Man muss auch Flagge zeigen und nicht darauf hoffen oder sich auch davor fürchten, dass der Übergangsrat vielleicht aus Dankbarkeit gegenüber Franzosen und Briten sowieso Verträge und Aufträge nur an britische und französische Gesellschaften geben werde.

Ich denke, es ist wichtig, wer jetzt da ist und zeigt, dass er bereit ist, Hilfe zu leisten, dass er gute Angebote hat, im humanitären Bereich – wie die, dass Deutschland etwa Verletzte aus dem libyschen Krieg in Deutschland behandelt – oder auch im wirtschaftlichen Bereich. Der wird auch eine Chance haben, mit dem neuen Libyen zusammenzuarbeiten.

Hatting: Prof. Volker Perthes war das, Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik. Vielen Dank für das Gespräch, Herr Perthes!

Perthes: Sehr gerne!

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