Schwierige Lage an der EU-Grenze

Mehr Realismus statt der Willkommenskultur von 2015

30:24 Minuten
Tausende von Flüchtlingen versuchen von der Türkei aus über die EU-Grenze nach Griechenland zu gelangen.
Tausende von Flüchtlingen versuchen von der Türkei aus über die EU-Grenze nach Griechenland zu gelangen. © picture-alliance/abaca/Can Erok
Ursula Weidenfeld im Gespräch mit Anke Schaefer  · 02.03.2020
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Eine naive Willkommenskultur betrachtet die Journalistin Ursula Weidenfeld als erledigt. Sie setzt auf die guten Erfahrungen bei der Integration von Flüchtlingen nach 2015 und plädiert für mehr Realismus.
Nach der Ankündigung der Türkei, die Grenzen zu öffnen, versuchen Tausende von Migranten weiter in die EU zu gelangen. Rund 13.000 Menschen harren bei Kälte auf der türkischen Grenzseite zu Griechenland aus. Doch die griechische Regierung will sie nicht einlassen. Nach Einschätzung der EU-Grenzschutzagentur Frontex könnte sich die Lage an der türkisch-griechischen Grenze in den kommenden Tagen noch weiter stark zuspitzen. Angesichts dieser dramatischen Geschehnisse an der EU-Grenze sagt unser Studiogast, die Wirtschaftsjournalistin Ursula Weidenfeld, es gebe heute einen Grundkonsens, dass ein Kontrollverlust über die Grenzen nicht mehr passieren dürfe.
Die Wirtschaftsjournalistin Ursula Weidenfeld
Die Wirtschaftsjournalistin Ursula Weidenfeld © picture-alliance/Geisler-Fotopress
Weidenfeld zeigt sich aber optimistisch. Im Vergleich zu der Willkommenskultur 2015 seien die Veränderungen keineswegs negativ zu sehen, findet sie. Heute werde vermutlich keiner mehr am Münchner Hauptbahnhof erscheinen und Bären verschenken. "Diese naive Freude, auch diese Selbstvergewisserung, wir sind ein offenes, ein fröhliches, ein willkommen heißendes Land – ich glaube, das hat sich in den Jahren nach 2015 ziemlich gründlich erledigt."

Neues Einwanderungsgesetz

Aber es gebe seither die positive Erkenntnis, dass Deutschland ein Einwanderungsland sei, so Weidenfeld. Seit dem Wochenende existiere ein Einwanderungsgesetz, das zum ersten Mal in der deutschen Nachkriegsgesellschaft die legale Einwanderung regele. "Sie können sich bewerben, in diesem Land arbeiten und leben zu können."
Seit 2015 habe sich außerdem gezeigt, dass der Zuzug von Flüchtlingen und Asylbewerbern die Lage in Deutschland nicht negativ beeinträchtigt habe. All die Ängste, dass Deutschen die Arbeitsplätze und Wohnungen weggenommen würden oder die Löhne sinken, all das sei nicht passiert. "Insofern haben wir ein sehr realistisches Bild davon, wie viel Integration ein Land wie Deutschland leisten kann", sagt Weidenfeld. "Das war viel mehr, als die Skeptiker gedacht haben." Von den Leuten, die 2015/2016 gekommen seien, habe jeder zweite einen Arbeitsplatz gefunden.

Polarisierung der Gesellschaft

Trotzdem sei Deutschland heute polarisiert und die Flüchtlingskrise habe als "Trigger" für diese Polarisierung gewirkt, so Weidenfeld. "Sie war der Auslöser, aber nicht der alleinige Grund." Die deutsche Gesellschaft habe sich in den vergangenen zehn Jahren sehr stark auseinander entwickelt. Viele Konflikte seien nicht ausgesprochen und politisch adressiert worden.
Dennoch könne man feststellen, dass Flüchtlinge und Asylbewerber Deutschland in keiner Weise geschadet hätten, weder ökonomisch noch sozial. Dazu lägen heute Studien und Ergebnisse vor, deshalb könne man sich jetzt rationaler und kühler darüber unterhalten und so an eine mögliche neue Flüchtlingswelle herangehen. "Wir wissen genau, was sich dieses Land zumuten kann und was es sich zumuten will, aber eben auch, was es sich nicht zumuten kann und was es sich nicht mehr zumuten will", sagt Weidenfeld.

Die Herausforderungen sind zu schaffen

Die Wirtschaftsjournalistin räumt ein, dass durch das Coronavirus die Lage heikel sei. "Ich will das gar nicht bestreiten, dass eine Bevölkerung, die ohnehin im Alarmmodus ist, dass die nicht gerade begeistert, offenherzig und großherzig reagiert, wenn neue Risiken ins Land kommen." Es sei immer ein Risiko, wenn eine vergleichsweise stabile Gesellschaft auf einmal Zuwachs bekomme, sich bedrängt oder bedroht sehe, so Weidenfeld.
Andererseits sei Deutschland eine unglaublich reiche Gesellschaft, in der die Sozial- und Gesundheitssysteme vergleichsweise gut funktionieren. Sie sei zuversichtlich, dass die Bundesrepublik deshalb mit Corona genauso umgehen könne wie mit der Frage, wer eigentlich in Zukunft in diesem Land arbeiten und leben will.
(gem)

Ursula Weidenfeld ist Wirtschaftsjournalistin, Kolumnistin und Moderatorin in Berlin. Sie studierte Wirtschaftsgeschichte, Germanistik und Volkswirtschaft an den Universitäten Bonn und München und schrieb ihre Doktorarbeit über die Wirtschaftspolitik in der Ära Adenauer/Erhard.

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