Schwerstbehinderung

Vom Leben mit einem sterbenskranken Kind

Der schwerstbehinderte Junge Tristan mit seiner Mutter im Porträt
Tristan ist fast zehn Jahre alt - und braucht für alles Hilfe. © Deutschlandradio / Nathalie Nad-Abonji
Von Nathalie Nad-Abonji |
Kinder wie Tristan und Mütter wie Rike trifft man nicht auf dem Spielplatz, nicht im Spaßbad und auch nicht in der Eislaufhalle. Denn Rikes Sohn Tristan ist schwerstbehindert – geistig und körperlich.
Rike: "Komm', wir können mal dein Mittag vorbereiten, das müssen wir noch pürieren. Fisch oder Hackbraten? Fisch oder Hackbraten? Fisch? Ja? Du hast gegrient, das nehme ich mal als Ja."
Behutsam legt Rike Baum ihren Sohn auf die große Couch im Wohnzimmer. Sie streckt Tristans steife Knie. Drückt sanft den gekrümmten Oberkörper in die Kissen. Dann geht sie in die Küche der Plattenbauwohnung im Rostocker Stadtteil Schmarl. Es ist ein sommerlicher Samstag. Trotzdem stecken Tristans Füße in dicken Wollsocken. Sein Körper kann Temperatur schlecht regulieren – die Füße sind oft kalt. Die Kniegelenke, zwischen Schienbein- und Oberschenkelknochen ohne Muskeln, sehen aus wie große Kugeln. Er wirkt sehr zerbrechlich.
Rike kommt aus der Küche und hebt ihn hoch. Seine schönen, mandelförmigen Augen bleiben halb geschlossen. Sie geht mit ihm drei Schritte zum Rollstuhl, der am Esstisch steht. 25 Kilo wiegt Tristan mit seinen knapp 10 Jahren. Eigentlich wenig. Aber viel, wenn Rike – drahtig und schmal - ihren Sohn unzählige Male am Tag heben, wenden, tragen und halten muss.
Rike flüsternd: "Geht los jetzt, Mittagessen. Hast du schon Hunger? Weißt Du auch noch nicht so genau. Ich glaube schon... Hier schnallen wir Dich erst mal fest, damit Du nicht aus dem Stuhl fällst. Zack. So, das mache ich nur, damit das hier nicht so einschneidet."
Sie schiebt eine blaue Stoffwindel zwischen den Bauchgurt und Tristan, der wortwörtlich in den Seilen hängt.
"Aber er muss ja auch bequem sitzen beim Essen. Es ist ja auch eine Anstrengung und es ist so aufregend. Und du weißt jetzt nicht, wie du das alles hinkriegst, nicht? Aber wir versuchen unser Glück immer wieder aufs Neue, nicht? Erst mal ein Schluck Wasser Schatzi."
Rieke nimmt eine Spritze mit Tee in die Hand und schiebt die Spitze – ohne Nadel natürlich - in Tristans Mundwinkel. Was herausläuft, tupft sie mit einer Papierserviette gleich ab. Ihr Sohn leidet unter einer Schluckstörung. Die Gefahr, dass er sich beim Essen oder Trinken verschluckt und daran erstickt, ist groß. Tristan hustet.
Rike: "Einmal noch. Vielleicht hustest du ja nochmal. Pass auf. Gut. So, mein Schatz. Jetzt geht's los. Heute gibt es Fisch in Tomatensauce mit Süßkartoffel-Reis-Püree. Ist Ihnen das recht, mein Herr? Ich glaube schon. Okay, ich muss aber deinen Kopf festhalten. Du weißt, du fällst immer wieder nach vorne und dann hast du das Essen im Auge und das ist total doof.
Achtung. Riech mal: Fisch. Mit Tomatensauce, hat Oma gemacht. Achtung, Löffel! Ist immer spannend, die ersten Löffelchen. Was kommt da? Gefällt es mir, ist es zu warm? Komm her Spatz. Jedes Mal, wir machen das schon zehn Jahre..."
Tristans Arme verrenken sich in der Luft
Tristan presst die Lippen fest aufeinander. Wenn sein Mund sich doch öffnet, schiebt die Zunge den Brei wieder raus. Dabei drückt er den Kopf weit nach vorne.
"Sortiere dich mal. Wenn du so unruhig bist, dann verschluckst du dich. Mach mal deinen Mund auf."
Rike hält in der einen Hand den Löffel. Mit der anderen schiebt sie Tristans etwas ungewöhnlich geformten Kopf zurück in die Nackenstütze des Rollis. Nur der Bauchgurt verhindert, dass er aus dem Rollstuhl fällt. Seine Arme verrenken sich in der Luft. Ein quälender Anblick. Seine Mutter bleibt geduldig. Das Frühstücken habe toll geklappt, erzählt sie später. Tristan habe seinen Kopf selbst gehalten und mit gutem Appetit gegessen. Mittlerweile ist die 44-Jährige es gewohnt, dass keine Mahlzeit so wie die andere ist. Und dass es manchmal so aussieht, als habe ihr Sohn alles verlernt, was ihm in endlosen Logopädie-Sitzungen beigebracht wurde.
Lange Zeit wusste Rike Baum nicht, was mit ihrem Kind los ist. Es kam zwar knappe acht Wochen zu früh auf die Welt. Aber die Schwangerschaft war unauffällig gewesen.
"Ich habe immer noch gedacht, ich habe ein gesundes Kind mit Entwicklungsverzögerung. Aufgrund des Frühchens sein. Ich habe gesagt, okay, dann ist er halt ein bisschen zurück. Dann sitzt er halt mit einem Jahr. Wo dann ein Jahr um war, dann sitzt er halt mit anderthalb Jahren, so immer. Aber letztendlich hast du schon irgendwie gespürt, dass da was ist. Du merkst es als Mutter irgendwie. Und er war ja optisch von seinem Verhalten, von seinen Bewegungen, dass er nicht fixiert hat, dass er dich so anguckt und stillhält und so wie andere Kinder: Die hören irgendwo was runterfallen, gucken hin und wissen, ah, das ist das. Ist gut, Schatzi."
Tristan stöhnt.
"Mal gucken. Tristan, was schadet dir? Bist Du zu aufgeregt? Oma kommt nachher, wir wollen rausfahren. Dann musst du dir jetzt aber auch Mühe geben. Mhhm, Du? Wir versuchen es..."
Die Rostocker Mediziner waren ratlos. Zufälligerweise sah die Mutter im Fernsehen einen Arzt der Charité über den seltenen Gendefekt PCH2 sprechen – Pontocerellebäre Hypoplasie Typ 2. Alles was er sagte, kam ihr so bekannt vor. Rike Baum rief den Arzt am nächsten Tag an und machte einen Termin aus. Ihr Verdacht sollte sich bestätigen.
"Das Kleinhirn ist fast gar nicht vorhanden und das Großhirn hat einfach aufgehört sich zu entwickeln. Deswegen hat er auch diesen Mikrozephalus, diesen zu kleinen Kopf für sein Alter. Weil das Hirn nicht mehr gewachsen ist und die Nähte sich frühzeitig verschlossen haben. Ist ja logisch."
Kinder wie er werden durchschnittlich nur fünf Jahre alt
Tristan gilt als blind, hört aber gut. Er kann nicht sprechen, nicht greifen, nicht gehen, nicht sitzen, nicht essen – er wird es auch nie können. Und er wird vor seiner Mutter sterben. Kinder mit PCH 2 werden durchschnittlich nur etwa 5 Jahre alt. Tristan ist bald doppelt so alt. Wie die Schluckstörung sind auch Spastiken, epileptische Anfälle, Unruhezustände und Schlaflosigkeit typisch für PCH 2.
"Die ersten drei Jahre sind die schrecklichsten, weil man ja auch gar nicht weiß, was auf einen zukommt. Du musstest erst mal für dich einen Weg finden. Tristan für sich und wir beide zusammen. Das war einfach schrecklich. Das war kein Leben. Und ich sage es immer wieder: Wenn ich nicht zu feige und zu ängstlich gewesen wäre, wären wir beide nicht mehr am Leben..."
Rike weint.
"Es kommt manchmal einfach nur hoch. Das war richtig schrecklich. Man war so verzweifelt und hatte keine Hilfe. Weil die Ärzte auch nicht wussten was los war. Da hat man nur nach einer Lösung gesucht, die nicht weh tut. Ich glaube das ist auch normal, vielleicht machen das auch viele Familien. Ich weiß es nicht. Ich verstecke mich auch nicht dafür. Aber ich hatte immer Angst, dass er es vielleicht überlebt. Aber dann... Das sind so kleine Momente, wo du wieder denkst, es lohnt sich doch. Wenn er dich anguckt und sich freut und du denkst, da ist doch was, er will."
Mittlerweile ist Tristans Stirn schweißnass vor Anstrengung. Seine Mutter weiß sich nicht mehr anders zu helfen, als ihm die Arme mit Stoffwindeln an die Rollstuhllehnen zu binden.
Bald darauf beruhigt sich Tristan und Rike kann ihn füttern. Dann schläft er erschöpft ein.
Die Krankenschwester ist eine seiner wichtigsten Bezugspersonen
Ein paar Tage später in der Grundschule Michaelshof in Rostock.
Cora: "So, jetzt haben wir Kunstunterricht und Frau Köckeritz leitet den Kunstunterricht. Sie ist ja die Lehrerin und wir machen heute Libelle am Fluss oder Libelle am See."
Cora Brandenburg ist Tristans Krankenschwester.
"Da brauchen wir grün und blau und ich werde mit Tristan das mit dem Schwamm tupfen. Das geht einfach. Und der ist ja zum Malen, Tupfen oder Darüberstreichen. Das ist so schön handlich und es ist öfter mal, dass er dabei ruht. Aber er bekommt es trotzdem mit und ich schiebe ihn dann nicht einfach in die Ecke und setze mich hin und male alleine das Bild. Das wäre auch ein bisschen übertrieben. Sicherlich wird das Bild auch nach mir aussehen."
Cora Brandenburg ist bei einem Pflegedienst angestellt und betreut Tristan seit sechs Jahren. Neben seiner Mutter und seiner Oma ist sie Tristans wichtigste Bezugsperson. Sie begleitet ihn jeden Tag zur Schule.
"Jetzt haben wir in einem Blauton Farbe auf dem Schwamm. Ein wenig viel Wasser genommen, was man eigentlich nicht machen sollte... mal schauen... Ich halte Tristans Hand fest mit dem Schwamm zusammen. Man nennt es Handführung. Arbeiten mit Handführung. Dadurch, dass er das nicht alleine kann. Und jetzt tupfen wir in verschiedenen Blautönen und deuten uns einen See an. Je mehr man es fördert und fordert, umso einfacher funktioniert das Ganze. Umso lockerer wird die Muskulatur, umso einfacher ist es auch die Spastik zu beherrschen. Es gibt sicherlich Tage, da geht nichts. Aber die sind im Gegensatz zum Anfang viel weniger geworden. Er merkt das Material, nass kalt. Er merkt das Volumen vom Schwamm, den ich ihm in die Hand drücke und irgendwann kommt es hier oben an."
Für Außenstehende sieht es so aus, als würde Tristan unbeirrt weiterdösen, mit halb geschlossenen Augen.
"Jetzt nehmen wir die andere Hand. Eine Hand blau, die andere Hand grün. Es muss ja auch ein bisschen gerecht zugehen... So Hase..."
In dieser 2. Klasse lernen behinderte und nichtbehinderte Schüler gemeinsam. Tristan ist nicht der einzige, der morgens mit einer Betreuerin zum Unterricht kommt. Aber keiner der Schüler ist so schwer behindert wie er.
Wenn Cora mal krank ist, fällt für Tristan alles aus. Gemeinsam mit Rike sucht sie schon lange nach jemandem, der notfalls mal für sie einspringen kann. Bis es soweit ist, richtet sie ihr Leben voll und ganz nach Tristans Bedürfnissen aus. Wie eine Zweitmutter – nicht wie eine Krankenschwester.
"Man kann so eine Klientel nicht betreuen, wenn man nicht mit dem Herzen dabei ist. Das kann man nicht. Ich kann es nicht."
Nach dem Unterricht hat der Schulbus Cora und Tristan nach Hause gebracht. Dort warten schon ein Arzt und eine Krankenschwester.
Rike: "Du bist wieder zu Hause."
Iskenius: "Tag, Tristan."
Rike: "Wer ist hier? Gerade aus der Schule gekommen und schon wieder weiter."
Iseknius: "So viele Leute."
Rike: "Aber Doktor Iseknius war jetzt lange nicht da. Den müssen wir doch auch mal wieder rein lassen."
Der Arzt ist rund um die Uhr erreichbar
Alle 14 Tage kommen Ernst-Ludwig Iseknius und Grit Orlowski zu Tristan und Rike. Sie gehören zum sogenannten SAPV-Team für Mecklenburg-Vorpommern. SAPV steht für "spezialisierte ambulante Palliativversorgung".
Iskenius: "Gibt's irgendetwas?"
Rike: "Ach, immer dasselbe. Stuhlgang! Immer dasselbe. Ja, und dann nachts halt. Es ist schon blöd. Dann überstreckt er sich so blöd hin auf dem Rücken und wenn er sich so überstreckt, dann kriegt er keine Luft. Er muss ja auf der Seite liegen, damit er Luft kriegt. Dann mache ich immer schon ein Nackenkissen hin, damit er höher kommt. Sanddecke rauf und meistens geht es dann. Aber meistens muss ich ihm dann doch Tavor geben."
Auch wegen der vielen Medikamente, die Tristan bekommt, muss ihn regelmäßig ein Arzt sehen. Aber jeder Gang in eine normale Kinderarztpraxis ist für Mutter und Sohn anstrengend. Iskenius und seine Schwestern kommen zu ihren Patienten nach Hause - und sind rund um die Uhr für sie erreichbar.
Iskenius: "Wir achten weniger auf eine Entwicklung des Kindes. Oder auf akute Geschichten, sondern es geht darum, die Symptome unter denen das Kind leidet. Oder auch die Mutter leidet, zu erfassen und eine Symptomlinderung herbeizuführen. Es geht uns eben nicht um Heilung, sondern es geht um Lebensqualität. Das steht im Vordergrund, das steht ganz oben auf. Ich denke, das allerwichtigste ist die Verlässlichkeit und die Sicherheit, die die Mutter bekommt im Umgang mit dem Kind auch im Hinblick auf das Ende."
Das Ende. Damit meint Ernst-Ludwig Iskenuis Tristans Tod. Den Tod des eigenen Kindes. Unvorstellbar für alle Eltern. Weil die Reihenfolge nicht mehr stimmt und die Welt damit aus den Fugen gerät, schiebt auch Rike diesen Gedanken oft weit von sich. Der Arzt hat das Ende im Blick. Aus Erfahrung weiß er, wie wichtig es für die Trauer der Eltern sein kann, dass sie das Leben ihrer Kinder bis zuletzt als lebenswert empfinden.
Iskenius: "Das gehört eben zur Lebensqualität mit dazu: dass man versucht für das Kind und die Eltern, beide möglichst in der häuslichen Umgebung zu lassen, wie es möglich ist. Es gibt sicherlich Situationen, wo es nicht möglich ist. Das hatten wir auch schon. Aber da, wo es möglich ist, sie zu lassen. Und das ist eben unser Ziel."
Orlowski: "So Tristan, Tschüss! Dann macht euch eine schöne Woche und wir hören uns ja dann wieder nächste Woche."
Rike: "Genau."
Nachts steht Rike alle halbe Stunde auf
Rike ist mit ihrem Sohn allein. Von Tristans Vater lebt sie seit Jahren getrennt. Er kann oder will sich nicht mehr um sein Kind kümmern.
Rike kümmert sich und ist deshalb seit Jahren auf Pflegegeld und Hartz IV angewiesen. Viel Unterstützung bekommt sie von ihrer Mutter. Aber die knapp 10 Jahre, in denen sich alles nur um Tristan gedreht hat, haben sowohl bei Rike als auch bei ihrer Mutter Spuren hinterlassen.
Rike: "Meine Mutter kann es auch bald nicht mehr, weil Tristan groß ist wie ein 10-jähriger. Zwar nicht so schwer, aber wir müssen ja alles mit ihm machen. Er kann ja nichts selbstständig. Wir müssen ihn ja von A nach B tragen. Die kleinsten Bewegungen für ihn machen. Und das ist einfach das Schwere. Und irgendwann kommt man an seine Grenzen. Das merke ich ja bei mir auch. Ich mache das jetzt 10 Jahre und man merkt seine Wehwechen und meine Mutter wird 68. Da kann man nicht sagen, kannste mal hier... Und Cora ist körperlich auch nicht so in der Verfassung, dass sie das noch drei, vier, fünf, sechs Jahre machen kann alleine."
Dazu kommen die anstrengenden Nächte, in denen Rike manchmal alle halbe Stunde aufsteht, um Tristan zu richten oder ihn zu beruhigen - auch das ist typisch für seine Krankheit. Rike braucht immer dringender eine zweite Krankenschwester oder Pflegerin. Eine, die auch mal über Nacht bleiben kann.
Erst mal klammert sich die 44-jährige daran, dass Tristan bald mit seiner Oma in ein Kinderhospiz fahren wird. Im Gegensatz zu einem Sterbehospiz, in dem Erwachsene bis zu ihrem Tod begleitet werden, können in einem Kinderhospiz schwer kranke Kinder mit ihren Eltern und den gesunden Geschwistern Urlaub machen. Das bezahlt die Krankenkasse.
In der Schule, nach dem Mittagessen. Cora Brandenburg und die Förderschullehrerin Sabine Kilian sitzen neben Tristans Rollstuhl auf der Heizung. Ein Mädchen aus seiner Klasse kommt und streichelt seine Hand.
"Tristan ist nämlich toll. Weil er etwas Besonderes ist. Na ja, weil Tristan ist ja ganz anderes als wir."
Kilian: "Es ist auch ganz oft so, dass er hinten – wenn er eine Auszeit braucht – irgendeiner von den Grundschulschülern liegt immer dabei. Es ist ganz oft so, dass sie sich dazulegen. Dass sie in Tristan einen Wert sehen, der im Alltag nicht immer so kommuniziert wird, das ist das Größte was sie hier lernen können."
Angst vor der Leere, wenn Tristan mal nicht mehr ist
Dennoch: die Lehrer taten sich schwer mit der Entscheidung einen so stark behinderten Jungen in die Klassen aufzunehmen.
Kilian: "Wir hatten einen hochbegabten Jungen bis zu einem schwerstmehrfach behinderten Jungen, eben Tristan, der erblindet ist und sehr stark im basalen Bereich lernt. Und dieser Spagat hat uns sehr viel Respekt eingeflößt und wir waren uns unsicher. Man schämt sich jetzt im Nachhinein, dass man so gezögert hat und so viele Bedenken hatte, weil von diesen Bedenken ist nichts eingetroffen. Gar nichts."
Nicht mal ihre Befürchtung, dass Tristan vom Unterricht gar nichts mitbekommt.
Kilian: "Da ist eine ganz eindeutige Entwicklung zu verzeichnen, die man aufgrund seiner Körpersprache, seines Gesichtsausdruckes, seines extrem vermehrten Lautierens und Phonierens beobachten kann. Und das sind Entwicklungsschritte, die wir so nicht erwartet haben."
Hund hechelt.
Rike leise: "Wo ist dein Stock. Mach mal Platz."
Hund bellt.
Rike: "Ahhh, das ist eigentlich das Schönste was es gibt... so in der Natur... einfach abschalten... die Bäume angucken und mit dem Hund rumlaufen. Das ist schon ein bisschen auftanken. Aber zu Hause ist es ziemlich ruhig."
Rike hat Tristan und seine Oma am Vorabend nach Bremen in ein Kinderhospiz gefahren. Tags darauf spaziert sie mit dem Hund von Freunden durch den Küstenwald. Die langersehnte freie Woche mit viel Zeit für sich selbst – sie ist da.
Rike: "Das erste war heute auch, dass ich meiner Mutter eine SMS geschrieben habe. Wie war die Nacht? Hat er gestern gut gegessen? Das ist schon... Meine Mutter sagte schon, hör' auf zu schreiben, du sollst dich erholen. Ja, ich werde mich auch nicht nochmal melden. Man ist so drin in dem Tun. Es ist deine Aufgabe und du hast den ganzen durchstrukturierten Tagesablauf ohne Ende. Wie in einer normalen Familie ja auch. Wenn du dann wirklich so alleine bis – ich habe ja nichts weiter an der Backe. Ich habe keinen Partner und kein gesundes Kind, um was ich mich kümmern müsste – sondern ich muss mich mit mir selbst beschäftigen. Und das ist höllisch schwer."
Tristan ist für Rike alles. Seine Pflege ist zu ihrer Lebensaufgabe geworden.
Rike: "Es kommt immer wieder hoch. Auch jetzt in der kurzen Zeit – gerade mal 24 Stunden weg ist – wie es wirklich ist, wenn er für immer weg ist, was man macht. Wie geht es weiter? Man ist ja auch nicht mehr in einem Alter, in dem man komplett von vorne anfangen kann. Man ist Mitte 40, nachher ist man vielleicht Ende 40. Was soll man denn da von vorne anfangen? Da überlegt man schon, was macht man mit der ganzen Zeit. Sucht man sich einen 18 Stunden Job, damit der Tag ausgefüllt ist und man nicht über den Verlust nachdenkt. Ich weiß es nicht. Ich habe einfach vor dieser Leere Angst."
Rike: "Das ist eine schöne Stelle... Oh, herrlich das ist toll... Das sind so Momente, die kann man ganz oft nicht schätzen. Und sowas reicht mir manchmal. Einfach hier zu stehen, das Gesicht in der Sonne, der Hund wälzt sich vor Glück und du denkst, wie schön. Wie schön warm die noch ist... Es ist so super."
Die Woche ohne Tristan ist wie im Flug vergangen. Rike war beim Frisör, einmal auswärts essen mit Freunden. Und sie hat einen neuen Schrank in Tristans Zimmer aufgebaut – zu mehr ist sie nicht gekommen. Als wäre es gestern gewesen, sitzt sie jetzt wieder in ihrem umgebauten Bully mit elektrischer Rollstuhlrampe.
Rike: "Plötzlich hatte man seinen eigenen Plan und den erst mal zu koordinieren. Das war merkwürdig. Und es war ruhig und es war leer. Es hat echt gebraucht, ehe man da so angekommen ist und jetzt ist man angekommen, nach einer Woche. Und jetzt könnte man eine Woche Urlaub dranhängen. Aber nun ist es ja vorbei. Jetzt holen wir ihn wieder und (seufzt) dann geht der normale Stress mit ihm wieder los. Auch irgendwo schön, weil man weiß, so ist der Tagesablauf. Man muss sich nicht etwas suchen, damit man nicht zu Hause sein muss. Weil zu Hause wollte ich echt nicht sein, das war mir definitiv zu ruhig. Ich hätte auch echt viel in der Wohnung machen können und ich habe keinen Handschlag getan. Ich habe nichts getan. Nur ein bisschen beiseite geräumt, weil ein neuer Schrank für Tristan kommt. Aber das hat mein Neffe gemacht. Nichts. Ansonsten war man auf der Suche, um sich abzulenken. Um die Leere zu füllen. Ich glaube, es wird einem immer bewusster, dass doch die Zeit abläuft. Ich glaube, deswegen vermisst man ihn immer mehr. Also bei mir ist es so. Es ist intensiver."
Das Leben mit dem behinderten Kind hat Rike verändert
Vor Tristans Geburt führte Rike ein unstetes Leben. Viele Partys, wechselnde Jobs, nichts wofür es sich wirklich zu leben lohnt, sagt sie heute. Tristan hat Rike verändert.
Rike: "Ich bin total gespannt auf das Leben, was ich vorher nicht war. Das hat Tristan mir gezeigt. Egal wie das Leben ist, wie kompliziert – es zu nutzen. Das Leben."
Rike: "So, wir sind da. Syke. Kinderhospiz. Mal gucken, ob Tristan mich erkennt. Ich bin ein bisschen aufgeregt. Es ist immer komisch. Ich bin immer gespannt, wie Tristan reagiert. Huhh. Da ist er ja schon!"
Türsummer.
Oma: "Hallo!"
Rike: "Hallo."
Rike und Tristan kommen seit sechs Jahren immer wieder ins Kinderhospiz bei Bremen. Alle dort kennen den Jungen und selbst wenn Rike nicht da ist, kann sie darauf vertrauen, dass ihr Sohn in guten Händen ist.
Oma: "Hey, da kommt ja Nick. Tschüss!"
"Tschüss Sandra, kommt gut nach Hause."
Mit Tristan reisen drei weitere schwer kranke Kinder und ihre Familien ab.
Rike: "Da kommt er."
Durch die Gegensprechanlage: "Ja, vierte Etage, rechter Aufgang."
Kaum wieder zu Hause im Alltag angekommen, geht für Rike die Suche nach einer zweiten Krankenschwester weiter.
Der Chef eines neuen Pflegedienstes kommt vorbei, um sich vorzustellen und Tristan kennenzulernen. Vielleicht hat er ja jemanden, der ihr Kind betreuen kann.
Rike zu Tristan: "Stellst dich vor, sagst Hallo. Ich bin auch ganz albern ganz oft, na."
Henryk Dierberg: "Okay, dann erzählen Sie mir erst mal was zur der Situation."
Rike: "Er ist auf dem Stand eines Babys. Er kann nichts alleine. Er braucht komplette Unterstützung in allem, klar. Ich habe jetzt bloß eine Kinderkrankenschwester, die ihn in der Schule begleitet. Wir haben jetzt neun Stunden am Tag Pflege."
Sie erzählt Henryk Dieberg von den anstrengenden Nächten. Und dass nach 10 Jahren ihre Kräfte nachlassen - dass sie Unterstützung braucht.
Dierberg: "Das ist auch immer das Problem..."
Rike: "Ich muss ihm was zu trinken geben."
Dierberg: "Pflegekräfte an eine Versorgung zu binden auf Dauer. Das wollen viele nicht. Das ist ihnen zu langweilig, zu eintönig. Das ist schwierig. Und allgemein ist es mit Kindern immer so eine Sache."
Rike: "Das Thema hatten wir gestern gerade. Ich verstehe es nicht. Warum? Zu aufwändig?"
Rike fühlt sich von den Pflegediensten allein gelassen
Dierberg: "Wie sie schon sagten, viele trauen sich nicht ran. Die haben Angst. Es ist etwas anderes, wenn im Dienst einem Kind etwas passiert, als wenn es ein alter oder erwachsener Mensch ist."
Rike: "Aber es muss doch Leute geben, die auch für Kinder zuständig sind. Gerade Pflegedienst... Man kann doch nicht nur Erwachsene pflegen. Es gibt doch auch ein Haufen Kinder. Werden wir jetzt allein gelassen?"
Tristan sitzt während des Gesprächs auf dem Schoß seiner Mutter. Obwohl er eben noch ganz entspannt war und Rike ihm immer wieder zu trinken gibt, ist er unruhig wie sonst kaum. Seine Zunge wandert hin und her. Die Gesichtsmuskeln reißen Fratzen. Arme und Beine schlagen unkontrolliert in alle Richtungen.
Rike: "Es ist auch gerade ein Ausnahmezustand, was er hier fabriziert. Jetzt stört ihn gerade was. Irgendwas ist gerade im Busch. Aber das sind so die Äußerungen, die er hat und wenn man spürt wie hart er ist und wie doll er powert – da muss man schon dagegenhalten können. Zu Tristan: Ist gut, Schatzi. Spatzi, alles ist gut... Dann weiß ich auch nicht..."
Zwei Tage später feiert Tristan in der Schule seinen 10. Geburtstag.
Lehrerin Kilian im Klassenzimmer: "Wir haben für den Tristan noch etwas geplant und zwar hat Tristans Mama Luftballons organisiert, die in die Luft steigen. Und an diese Luftballons wollen wir Wünsche hängen. Wünsche für Tristan."
Rike: "Fällt dir was ein, Max? Malst du was? Du ja, Elias? Bist du schon fertig, darf ich mal gucken? Liest vor: Ich wünsche dir, dass du noch sehr lange lebst. Oh! Ich wünsche dir, dass du gesund bleibst. Mit Luftballons! Schön! Ich wünsche, dass du weiterlebst. Paul, ist das von dir? Finia! Oh, steht ja hinten drauf. Meine Güte."
Rike ist ganz bewegt von dem, was die Kinder auf ihre Zettel schreiben. Sie hat nicht damit gerechnet, dass sie so genau wissen, wie es um Tristans Lebenserwartung steht.
Rike schiebt den Rollstuhl, als alle gemeinsam in den nahegelegenen Park spazieren. Dort werden sie die bunten Luftballons mit den Wünschen für Tristan in den Himmel fliegen lassen.
Rike: "Wahnsinn, wer hätte das gedacht: Zehn Jahre. Das hätte keiner gedacht damals. Weil das so katastrophal anfing. Und wie gesagt: Für die Erkrankung... Man weiß halt nie wie es kommt. Es kann halt auch schneller vorbei sein. Und zehn Jahre, finde ich, ist schon ein total toller Weg."
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