Schwerins magisches Netz

Rezensiert von Volker Trauth |
"Nach Motiven des Romans von Franz Kafka" steht über der Textfassung des Schweriner Theaters, die Regisseur Peter Dehler zusammen mit Schauspielern aus fünf europäischen Ländern im Rahmen einer Kooperation mit anderen europäischen Theatern auf dem Unterdeck eines Schweriner Ausflugsdampfers in Szene gesetzt hat.
Er hat nicht versucht, die von Kafka mit psychologischer Genauigkeit erzählten Stationen des 16-jährigen Auswanderers Karl Rossmann in der neuen Welt szenisch nachzuerzählen. Von Karls argem Weg der Erkenntnis - von der Ausschiffung aus dem Ozeandampfer über die Erlebnisse im Haus des Onkels in Amerika, die Überlebenskämpfe als Liftboy im Hotel und als Diener in der Wohnung der ebenso reichen wie exaltierten Brunelda bis zur Bewerbung im Sommertheater von Oklahoma - sind nur noch einzelne Ereignissplitter und Handlungsmotive übrig geblieben.

Dafür sind Aphorismen aus dem Nachlass Kafka eingefügt und mit der bruchstückhaften Handlung verknüpft worden: der von der Freiheit, die nur der erlangen kann, der eine Idee von dieser Freiheit hat, oder der von den Gefängnisgittern, die ein Gefangener auch nach seiner Freilassung immer im Kopf behalten wird. In der Inszenierung werden diese Aphorismen zum Spielmaterial. Karl kommt im Selbstgespräch zur Erkenntnis, keine Idee von der Freiheit zu haben, wendet sich um und fragt die schwarz gekleideten und mit weißen Gesichtsmasken versehenen Mitspieler, wie es ihnen ergeht. Die antworten verneinend in ihrer Muttersprache, so dass ein vielstimmiger und vielsprachiger Dialog entsteht. Ausgehend vom ungewöhnlichen Spielort und der Internationalität der Besetzung hat Dehler den durchkalkulierten Wechsel von Muttersprache der Darsteller und einem gebrochenen Englisch gewählt. Nur der als einziger namentlich genannte und als Figur behauptete Karl Rossmann (Jacob E. Kraze) spricht Deutsch oder plappert ein in seinem Sinn nicht verstandenes Englisch nach.

Insgesamt sucht die Inszenierung nach der ganz eigenen Theatersprache, die Kafkas akribisch genauen Situationsbeschreibungen schlaglichtartig ins Bild zu setzen vermag und findet sie in clownesken Elementen. Die von Kafka über Seiten hinweg dargestellte Erkennungsszene zwischen Onkel und Karl ist reduziert auf die fünffach variierte Frage des Onkels "Are you Karl?" und die fünffach ängstliche Antwort "ja"; wenn jener reiche Onkel den Antihelden Karl in die "ewigen" Werte der Amerikaner einweisen will – was im Roman sehr sensibel und pädagogisch geschieht – überreicht er gönnerhaft einen Kaugummi und die Clowns stellen in marktschreierischer Überzeichnung ein Baseballspiel dar.

Auffällig auch die Suche nach Zeichen: Der vom Zimmermädchen unter den Rock gesteckte Ball signalisiert Schwangerschaft, die Aktenordner, hinter denen sich die Sicherheitsbeamten verstecken, aggressive Bürokratie. Manche Clownsspiele wie das von der "Reise nach Jerusalem", bei dem bekanntlich immer einer keinen Stuhl findet, spielen sich jedoch allzu früh leer und hält auf.

Unter dem Dauerfeuer körperlicher Aktionen geht das viel zitierte "Kafkaeske", das schmerzhaft empfundene Geworfensein des Menschen in undurchschaute Verhältnisse, verloren. Die Frage stellt sich, warum gerade Weltliteratur wie Kafkas Romanfragment als Absprungpunkt für austauschbare theatralische Einfälle dienen muss. Im Gedächtnis wird jedoch Jacob E. Kraze als Karl bleiben. Wie er sich mit clownesken Frechheiten aus der Affäre zieht, wie er die Fragen seiner Überwacher wiederholt und verdreht, das lässt die Umrisse einer listig naiven Schelmenfigur erkennen. In dem Punkt sind wir dann doch wieder bei Kafka – hatte doch sein Freund und Herausgeber Max Brod in dessen Werk die Vorwegnahme von Chaplin entdeckt.

"Amerika - Ship of hope"
Nach Motiven von Franz Kafka
Inszenierung des Staatstheaters Schwerin im Rahmen des Festivals des europäische Theaternetzwerks "Magic Net"
Regie: Peter Dehler